Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Wie Ursula von der Leyen einen grünen Traum aushebelte

Lesezeit: 3 min

Um den eigenen Einfluss in Brüssel zu stärken, schmiedeten die Grünen einen Plan gegen die Wiederwahl der EU-Kommissionspräsidentin. Doch die hat die Finessen der Europapolitik nun zum eigenen Schutz ausgespielt.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Selbst in einer so nüchternen Stadt wie Brüssel, selbst bei einem so trockenen, aber deswegen nicht unwichtigen Thema wie der Frage, wer nach der Europawahl 2024 als Präsident oder Präsidentin die neue EU-Kommission führen wird.

Aber wie das mit Träumen so ist, manchmal platzen sie.

Der Reihe nach: Der Traum begann mit einem Satz im Koalitionsvertrag, den SPD, Grüne und FDP vor einem Jahr unterzeichnet haben. Er lautet: "Das Vorschlagsrecht für die Europäische Kommissarin oder den Europäischen Kommissar liegt bei Bündnis 90/Die Grünen, sofern die Kommissionspräsidentin nicht aus Deutschland stammt."

Eine Möglichkeit beflügelt die grüne Fantasie

Übersetzt bedeutet das: Alle 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stellen in Brüssel einen EU-Kommissar oder eine -Kommissarin. Deutschland allerdings stellt keinen einfachen Kommissar, sondern die amtierende Präsidentin des Gremiums, die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen. Die Grünen könnten also nur dann einen oder eine der ihren in die EU-Kommission entsenden, wenn von der Leyen 2024 nicht mehr für ihr derzeitiges Amt in Frage kommt. Diese Möglichkeit beflügelt natürlich die Fantasie von Leuten in Brüssel, die zum einen die Grünen gut finden und zum anderen wissen, welchen politischen Wert ein EU-Kommissar für die Partei hätte.

Die Option aus dem Koalitionsvertrag zu realisieren, ist allerdings schwierig. Denn die SPD oder gar Bundeskanzler Olaf Scholz sehen eher keinen Vorteil darin, eine mächtige deutsche Kommissionspräsidentin, mit der sie gut zusammenarbeiten und die in Brüssel oft als Vollstreckerin der Berliner Politik gilt, gegen einen weniger einflussreichen grünen Kommissar zu tauschen. Die Lösung sah in der Theorie so aus: Eine zweite Amtszeit von der Leyens musste auch den Grünen in Berlin als so untragbar erscheinen, dass sie einen Koalitionskrach mit den Sozialdemokraten anzetteln, um sie zu ersetzen.

Nun fällt es grünen Politikern aber gar nicht so leicht, Ursula von der Leyen scharf zu kritisieren. Das liegt daran, dass die Kommissionspräsidentin zwar der CDU angehört, de facto aber in vielen Bereichen eine mehr oder weniger grüne Politik macht. Das gilt für den Umwelt- und Klimaschutz, aber auch für die Unterstützung der Ukraine. So hat von der Leyen den European Green New Deal entworfen, um Europas Ausstoß von Kohlendioxid drastisch zu senken. Russlands Überfall auf die Ukraine, den sie mit einem für sie ziemlich unüblichen Pathos geißelt, nimmt sie zum Anlass, für die Abkoppelung der EU von Öl und Gas aus Russland und den Umstieg auf grüne Energie zu werben.

Von der Leyen bietet eine Angriffsfläche

Nur eine offene Flanke hatte von der Leyen bisher: Ungarn. Weil die Kommissionspräsidentin lange Zeit sehr zögerlich war, den immer europafeindlicher agierenden Regierungschef Viktor Orbán in Budapest hart zu konfrontieren, reifte bei den Brüsseler Grünen ein Plan: Wenn sich von der Leyen als Beschützerin des unsäglichen Halbautokraten in Ungarn hinstellen ließe, wäre das vielleicht genug, um in der Koalition in Berlin einen Aufstand gegen sie anzuschieben.

Bei manchen Grünen in Brüssel mischte sich die echte Empörung über Orbán daher auch mit taktischen Überlegungen, wie das Ziel eines grünen Kommissars gefördert werden könnte. Sollte von der Leyen wieder einknicken und trotz der offensichtlichen Korruptions- und Rechtsstaatsprobleme in Ungarn empfehlen, dass das Land alle EU-Zuschüsse bekommt, könnte das Europaparlament sogar ein Misstrauensvotum gegen sie anstrengen, hieß es aus der grünen Fraktion. Auch Ungarn-Kritiker aus anderen Fraktionen wären dazu bereit gewesen. Ein solches Votum hätte zwar nicht gleich eine Abberufung der Kommissionspräsidentin bedeutet, dazu ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Aber eine weitere Kandidatur von der Leyens wäre erschwert worden. Um im Amt zu bleiben, braucht sie 2024 auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments. Ein Misstrauensvotum, selbst ein überstandenes, wäre dann keine gute Empfehlung.

Doch so, wie es aussieht, ist die Revolte vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Denn entgegen allen Erwartungen hat die Kommission vorige Woche vorgeschlagen, Ungarn mehr als 13 Milliarden Euro an EU-Zuschüssen vorzuenthalten. Das ist ein gewaltiger Batzen Geld - genug, um von der Leyen vor dem Angriff zu schützen, sie fasse Ungarn zu weich an.

Clever, clever

Zwar soll die Kommission jetzt auf Druck mehrerer EU-Regierungen - darunter der deutschen - noch einmal prüfen, wie die Zustände in Ungarn tatsächlich sind. Doch das ist weitgehend Brüsseler Theater. Und selbst wenn die Strafe danach aus politischen Gründen etwas milder ausfallen sollte und Budapest weniger Zuschüsse gestrichen werden, ändert das nichts daran, dass die EU-Kommission am Ende nicht mehr die Schuld daran trägt, wenn Brüssel weiter Geld an Budapest überweist. Das liegt dann in der Verantwortung der Regierungen der 27 Mitgliedsländer, nicht mehr in der von Ursula von der Leyen. Wenn die Grünen in Berlin wegen Ungarn gegen jemanden rebellieren wollten, wäre mithin der Bundeskanzler die richtige Zielperson.

Von der Leyen hingegen kann sich jetzt darauf konzentrieren, Spitzenkandidatin der EVP und der deutschen Unionsparteien für die Europawahl zu werden. Dass sie das schafft, wird in Brüssel nicht ernsthaft bezweifelt. Sofern die Konservativen dann stärkste Fraktion im neuen Europaparlament werden, müsste sie im Amt bleiben können.

Das habe, so räumt ein Kritiker der Kommissionspräsidentin ein, von der Leyen schon sehr clever gemacht. Aus der Traum.

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