Die Zukunft der britischen Wurst ist gesichert, aber ohne die Fische wäre das nicht möglich gewesen, und das bietet dann ja doch Raum für kritische Fragen. Als Premierminister Keir Starmer am Montagvormittag am Lancaster House in der Londoner Innenstadt zum ersten UK-EU-Gipfel seit dem Brexit eintrifft, ruft ihm einer der britischen Reporter am Absperrgitter entgegen: „Prime Minister, haben Sie die Fische verkauft?“ Wobei verkauft in dem Zusammenhang und Unterton eher mit verraten zu übersetzen wäre.
Es ist immer schon emotional kompliziert gewesen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, das Brexit-Votum hat die Komplikationen auf ein neues Level gehoben. Es ging nicht immer nur um Fische und Würste in den vergangenen neun Jahren, aber die Fische und Würste sind jetzt ein gutes Beispiel dafür, wie es zugeht, wenn Unterhändler auf beiden Seiten sich zu einigen versuchen. Das ganze Wochenende sei durchgehend verhandelt worden, hieß es am Montag, auch nachts.
Im Abkommen steht auch ein Punkt, der britische Urlauber freuen dürfte
Am Montag reisten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident António Costa und Top-Diplomatin Kaja Kallas an, auch der britische Außenminister David Lammy und die Schatzkanzlerin Rachel Reeves kamen ins Lancaster House. Dieser Montag war der Höhepunkt nach monatelangen Vorbereitungen und Verhandlungen, seit die im vergangenen Sommer gewählte Labour-Regierung einen „reset“ der geschundenen Beziehung zwischen Königreich und Europäischer Union zum Ziel ausrief. Es sei ja „lächerlich“, dass man in der EU keine britischen Würste und Burger verkaufen könne, sagte Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds noch am Montagmorgen im BBC Radio.
Der Gipfel an diesem Montag sei „historisch“, sagte Reynolds auch. Das kann man so sehen: Dass sich die EU und das Vereinigte Königreich auf ein derartig umfassendes Abkommen einigen, damit war bis vor Kurzem ja eher nicht zu rechnen. Die gemeinsame Erklärung ist 24 Punkte lang, auf mehreren Gebieten wurde nach- und teils neu verhandelt. Das Paket, das in den nächsten Wochen finalisiert werden soll, umfasst diverse Themen wie ein Sicherheits- und Verteidigungsbündnis, eine engere Zusammenarbeit der Geheimdienste, aber auch einfachere Visa für Studenten und die Rückkehr des UK in das Erasmus-Programm. „Es ist eine lange Liste“, sagte Keir Starmer am Montagnachmittag, sichtlich stolz. Auf der Liste steht auch ein Punkt, der britische Urlauber freuen dürfte: Künftig sollen Briten an Flughäfen die EU-Schalter nutzen dürfen, statt wie bisher in der oft längeren Schlange für Drittländer stehen zu müssen.
Der Durchbruch gelang erst, als sich die beiden Parteien auf den Umgang mit den Fischereirechten einigten
Im Zentrum stand ein Thema, das bisher von beiden Seiten als nahezu unverhandelbar angesehen worden war: der Umgang mit Lebensmittelstandards. Die Kontrollen von Lebensmitteln sowie Tieren und Pflanzen an den Grenzen zur EU stellten in den vergangenen Jahren ein größeres Problem dar, weil sie den Handelsverkehr zwischen dem Königreich und seinem größten Handelspartner erheblich einschränkten. Nach dem neuen Abkommen dürfen nun die meisten Nahrungsmittel, Pflanzen und Tiere entweder ohne Kontrolle oder mithilfe von vereinfachten Absicherungen (etwa einem „Tier-Pass“) passieren.
Die Beteiligten schienen sich, wenn man das, was aus den Verhandlungsräumen nach draußen drang, richtig deutete, einig zu sein, dass der Durchbruch erst gelang, als sich die beiden Parteien auf den künftigen Umgang mit den Fischereirechten einigten. Der von der Vorgängerregierung ausgehandelte Deal, der einen Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern beinhaltete, wäre im kommenden Jahr ausgelaufen. Der Zugang wurde nun um zwölf Jahre verlängert.

„Heute beginnt ein neues Kapitel“, sagte von der Leyen auf der Pressekonferenz, die in einem dem Anlass angemessenen, glamourösen Saal mit Goldstuck und Monarchengemälden stattfand, mit Reeves, Lammy und Kallas in der ersten Reihe. „Wir sind Partner und Freunde“, sagte Costa, es sei „Zeit, nach vorne zu blicken“, sagte Starmer.
In den turbulenten Tory-Jahren ging viel Vertrauen zwischen Brüssel und London verloren
Vor allem die persönlichen Beziehungen der handelnden Personen sind wichtig, wenn man sich in schwierigen Themen auf Kompromisse einigen soll, auch jetzt dürfte das den Ausschlag gegeben haben. Keir Starmer etwa soll Ursula von der Leyen im Zwiegespräch versichert haben, dass man nicht gleich zum nächsten Mikrofon rennen werde, wenn es eine neue Wendung in den Verhandlungen gebe. Genau das ist in den turbulenten Tory-Jahren immer wieder passiert, gerade in der Zeit des Premierministers Boris Johnson ist einiges an Vertrauen zwischen Brüssel und London verloren gegangen. Bis zuletzt war Starmers Regierungsapparat zum Gipfel tatsächlich derart verschwiegen, dass bis Sonntag nicht einmal klar war, wo genau der Gipfel eigentlich stattfinden werde.
Der im britischen Kabinett für die EU zuständige Nick Thomas-Symonds soll sich mit Maroš Šefčovič, dem Chef-Verhandler für das UK aufseiten der EU, gut verstehen, und sogar der französische Präsident Emmanuel Macron soll seinen Beitrag geleistet haben. Die Sunday Times berichtete, ein Schlüsselmoment im Annäherungsprozess habe sich im Zug in die Ukraine abgespielt, als sowohl Macron als auch Starmer und der neue Bundeskanzler Friedrich Merz nach Kiew reisten. Starmer und seine 15 Mitarbeiter und Minister, alle mit einem kleinen Rucksack ausgerüstet, seien „amazed“ gewesen, als sie Macrons 60-köpfige Delegation inklusive eines Privatkochs und Bergen von Essen und gutem Wein gesehen hätten. Macron habe Starmer und Merz in seinen Waggon auf Foie gras und Wein eingeladen.
Auf dem Rückweg habe Macron Starmer dann noch einmal allein auf ein Glas Chardonnay zu sich gebeten. Dabei habe Starmer seinen französischen Kollegen schließlich überzeugt, seine sture Haltung in einigen Fragen aufzugeben, darunter auch in den Fragen der Fischereirechte; Macron forderte für seine Fischer ja bis zuletzt noch mehr Zugang als bisher.
Daher auch die Frage des britischen Reporters, die bei der Pressekonferenz dann noch mal wiederholt wurde. Und deren Antwort also wäre: Nein, Keir Starmer hat die Fische nicht verkauft. Dass Fischerei gerade mal 0,04 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht und höchstens symbolischen Wert hat, das ist dabei egal. Symbole sind wichtig, vor allem, wenn man versucht, die Wunden einer hässlichen Scheidung zu heilen.