Im Februar 2023 war der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij zum ersten Mal Gast bei einem EU-Gipfeltreffen, und damals glich sein Auftritt in Brüssel dem eines Rockstars, von dessen Ruhm und Glanz alle Rückenklopfer gern ein wenig abhaben wollen. Selenskijs Besuch beim Gipfel am Donnerstag verlief nüchterner, was aber vor allem zeigte, wie normal die Anwesenheit des olivgrün gekleideten Mannes aus Kiew bei solchen Veranstaltungen inzwischen ist. Egal, ob die Nato- oder die G-7-Staaten, die D-Day-Alliierten oder eben die EU-Länder zusammenkommen – Selenskij ist auch dabei, und die Staats- und Regierungschefs behandeln ihn wie einen der Ihren.
Das wiederum hat mit zwei Erkenntnissen zu tun, die sich nach knapp zweieinhalb Jahren Krieg in Europa fast überall durchgesetzt haben. Erstens: Selenskij und die Ukrainer kämpfen an der Front im Osten ihres Landes nicht nur für sich, sondern auch für den weiter westlich gelegenen Teil des Kontinents. Zweitens: Eben jener westliche Teil muss sich bereit machen, irgendwann womöglich selbst zum Ziel der russischen Kriegstreiberei zu werden.
Insofern war es folgerichtig, dass vor allem zwei Fragen die inhaltliche Debatte beim Brüsseler Gipfel dominierten: Wie kann Europas militärische Unterstützung für die Ukraine gesichert werden? Und: Wie kann Europa seine eigene Verteidigung auf einen Stand bringen, dass es einem Angriff Russlands widerstehen kann?
Die Hilfe für die Ukraine soll „langfristig“ und „berechenbar“ werden
Die Antworten, zumindest einzelne Ideen dazu, stehen in einer Reihe Papiere, die den Gipfel beschäftigten. So unterzeichneten Selenskij, EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag ein europäisch-ukrainisches Sicherheitsabkommen. Die EU verpflichtet sich darin – allerdings nicht völkerrechtlich bindend –, das überfallene Nachbarland „langfristig“ und „berechenbar“ mit Munition und Waffen zu beliefern, sprich: nicht mehr so improvisiert wie in den vergangenen Jahren und vor allem – unabhängig von den sich ändernden politischen Launen und Mehrheitsverhältnissen in der EU. Die militärische Hilfe solle „beschleunigt und intensiviert werden“, heißt es in dem Dokument. Zudem will die EU die Ausbildung ukrainischer Soldaten ausbauen und die Zusammenarbeit fördern zwischen der europäischen und der ukrainischen Rüstungsindustrie.
Dieser militärische Beistand soll politisch und wirtschaftlich flankiert werden, vor allem durch die Heranführung der Ukraine an die EU bis hin zum Beitritt – irgendwann jedenfalls. Die Europäer sagen Kiew zudem Unterstützung beim Wiederaufbau und beim Schutz von Flüchtlingen zu.
Ungarn verhindert, dass Mittel für Militärgerät fließen
Das klingt alles gut. An wohlklingenden Hilfsversprechen aus Brüssel hat es der Ukraine allerdings noch nie gemangelt. Die praktische Umsetzung funktioniert hingegen zuweilen weniger gut. Die bis zu fünf Milliarden Euro jährlich etwa, deren Bereitstellung die EU dem Abkommen zufolge „ins Auge fassen könnte“, um Waffenkäufe für die Ukraine zu finanzieren, stehen erst einmal nur auf dem Papier. Ungarn verhindert seit Monaten, dass Geld aus dem entsprechenden EU-Etat an die Mitgliedsländer abfließt, die Militärgerät an die Ukraine abgeben. Und Budapest kann auch jede neue Aufstockung dieses Sonderbudgets per Veto blockieren – Verlässlichkeit unter Vorbehalt, wenn man es so sagen will.
Geld ist auch der größte Streitpunkt bei der Antwort auf die zweite Frage: Wie kann die EU sich so aufrüsten, dass sie Russland abschrecken kann? Denn das ist zumindest das Ziel, das die Staats- und Regierungschefs in ihrer sogenannten Strategischen Agenda – dem Arbeitsprogramm der EU für die nächsten fünf Jahre – ausgeben. Europa werde „substanziell mehr und besser“ in seine Verteidigung investieren und die eigene Rüstungsindustrie stärken, heißt es entschlossen in dem Dokument. Dazu, das ist absehbar, sind Ausgaben in Höhe von zig Milliarden Euro notwendig. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte am Donnerstag in einem Vortrag vor den Staats- und Regierungschefs die Summe von 500 Milliarden Euro, die in der nächsten Dekade für die Verteidigung ausgegeben werden müsste. Sicherheit sei kein Luxus, sondern ein öffentliches Gut, das Staaten bereitstellen müssten, argumentierte von der Leyen.
Und wo Milliarden herkommen sollen, ist jedoch ebenso unklar wie umstritten – so umstritten, dass von der Leyen sich nicht einmal traute, schriftlich Vorschläge vorzulegen. Ärmere und kleinere EU-Länder, aber auch Frankreich, plädieren für die Aufnahme gemeinsamer Schulden, etwa durch speziell für Militärausgaben vorgesehene EU-Anleihen. Reichere und größere Staaten, darunter Deutschland, wollen das keinesfalls – sie müssten die Hauptlast des Schuldendiensts tragen. Streit ist daher absehbar. Immerhin zeichnet sich in einer Frage Einigkeit ab: Die Europäische Investitionsbank, gewissermaßen das hauseigene Kreditinstitut der EU, soll künftig auch Verteidigungsprojekte fördern dürfen.
An Vorschlägen, wie das viele Geld, das es noch nicht gibt, ausgegeben werden soll, mangelt es in der EU nicht. Und es ist auch kein Zufall, dass ausgerechnet Polen sich mit Vorschlägen hervortut – der größte Frontstaat in Osteuropa. Die neue EU-freundliche Regierung in Warschau, die die europafeindliche PiS-Regierung abgelöst hat, sieht, dass die militärische Stärkung der Ostflanke nur mit finanzieller Hilfe aus Brüssel zu stemmen ist.
Bei Gipfeltreffen am Donnerstag lagen den Staats- und Regierungschefs gleich zwei Ideenpapiere vor, an denen Polen mitgearbeitet hatte: In einem Brief plädiert Warschau zusammen mit den Regierungen der baltischen Länder dafür, entlang der Grenzen zu Belarus und Russland militärische Verteidigungsanlagen aufzubauen – eine Art Maginot-Linie im Osten, mehrere Hundert Kilometer lang und mindestens 2,5 Milliarden Euro teuer. Die EU solle das Vorhaben „politisch und finanziell unterstützen“, schreiben die Regierungen. Im zweiten Dokument schlägt Polen zusammen mit Griechenland den Aufbau eines gemeinsam finanzierten europäischen Luftverteidigungssystems vor. „Schild und Speer“ nennen Warschau und Athen ihre Initiative. Wie wertvoll eine funktionierende Luftabwehr ist, davon konnte Präsident Selenskij seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen in Brüssel erzählen – bei ihm zu Hause in der Ukraine vernichten russische Raketen und Gleitbomben jeden Tag Leben.