EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik:Merkel braucht Harmonie, Conte den großen Knall

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Merkel hat ein Ziel beim Gipfel in Brüssel: Sie braucht Deals, die ihr das Amt retten. (Foto: AFP)
  • Als Druckmittel blockiert der italienische Ministerpräsident Conte vorläufig alle Beschlüsse des Gipfels zur Flüchtlingspolitik.
  • Ratspräsident Tusk und Kommissionspräsident Juncker verschieben deshalb ihre Pressekonferenz auf den nächsten Tag.
  • Das Vier-Augen-Gespräch zwischen Conte und Kanzlerin Merkel hat den Konflikt also nicht entschärft. Merkels Schicksal als Kanzlerin hängt vom Ergebnis des Gipfels ab.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Man kann es sich halt nicht aussuchen. "Ich treffe jetzt die Visegrad-Gruppe", flüstert Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Kanzlerin zu, als er Angela Merkel in der Lobby des Brüsseler Ratsgebäudes sieht. "Oh", sagt sie nur, und dann ein Blick, der verrät: Das ist noch gar nichts. Merkel hält verschwörerisch die Hand vor den Mund und sagt: "Ich sehe jetzt Conte." Giuseppe Conte, der neue italienische Ministerpräsident, daheim ein Regierungschef ohne Hausmacht, ist für Merkel an diesem Gipfelabend ein wichtiger Mann. Vielleicht der wichtigste. Am Morgen hat Merkel im Bundestag schon klargemacht, dass kein Durchbruch, im Streit über die Migration zu erwarten ist. Teile einer Lösung aber braucht sie. Conte ist der Mann, der selbst das kaputt machen kann. Ist er der Mann, der am Ende die Kanzlerin stürzt?

Merkel hat ein vorrangiges Ziel in Brüssel. Sie braucht Deals, die ihr das Amt retten, Abkommen mit Italien und Griechenland. Diese Länder sollen sich bereit erklären, schneller und einfacher Flüchtlinge zurückzunehmen, die schon auf ihrem Boden registriert wurden.

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Der griechische Premier Alexis Tsipras zeigt sich willig, er braucht die Deutsche als Garantin für all die Milliardenhilfen, die sein hoch verschuldetes Land empfängt. Schon hat er per Zeitungsinterview ein positives Signal gesendet.

Beim Italiener wird es um ein Vielfaches diffiziler. Der Südstaat sieht sich als Hauptleidtragender der Migration Richtung Europa. Denn noch landen fast alle, die ein Boot in Libyen besteigen, am Ende in italienischen Häfen. Das müsse sich ändern, poltert die populistische Regierung in Rom. Sie will die Dublin-Regel kippen, wonach jenes Land für die Registrierung der Migranten zuständig ist, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten. Stattdessen sollen auch andere mitmachen, ihre Häfen öffnen und so Italien entlasten.

Conte verweist auf die Lifeline, jenes Schiff mit 235 Migranten, das eine Woche durch das Mittelmeer kreuzte, bis sich am Mittwoch acht Staaten bereit erklärten, die Passagiere aufzunehmen (siehe nebenstehenden Bericht). Die Realität habe sich durchgesetzt, jubelt Conte. Der Vorfall könne zum Modell für das künftige Vorgehen im Mittelmeer werden. Dann solle vor der Landung eines Rettungsboots - und nicht, wie bisher, erst danach - entschieden werden, wie man die Migranten in der EU verteile.

Conte geht in die Offensive. Gegen 20 Uhr, kurz bevor es um die Migration gehen soll, verkündet er, dass er die Schlussfolgerungen, auf die sich alle schon geeinigt hatten, vorerst blockieren werde. Da geht es um Handel, Wachstum, Verteidigung. "Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist", sagt der Italiener. Ein Papier, in dem der "neue Ansatz" nicht stehe, werde Conte nicht unterschreiben, sagt ein EU-Diplomat. Die anderen bestürmen Conte, mehr als eine halbe Stunde lang diskutieren die Staats- und Regierungschefs über "prozedurale Fragen". Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagen ihre Pressekonferenz ab, es gibt ja nichts zu verkünden in diesem Moment - außer Streit und Ärger.

Angela Merkel schwimmt jetzt mitten im Strudel dieses Gipfels. Wo sie landen wird, weiß sie wohl selber nicht. Sie hat gekämpft. Aber was genau hat sie erreicht beim Tête-à-tête mit Conte vor dem Gipfel? 40 Minuten habe das Gespräch gedauert, ist zu hören; 20 Minuten, sagen andere. Der Inhalt: streng geheim. Spät am Abend kursiert ein Textentwurf, der Italien - und Frankreich - weit entgegenkäme. Von einem "neuen Ansatz" ist darin tatsächlich die Rede; man werde sich in "gemeinsamer Anstrengung" um die Geretteten auf See kümmern und sie in jene "kontrollierte Zentren" transferieren, die Macron so gern hätte. Angeblich seien sich die Mittelmeerstaaten einig. Die Politiker diskutierten in "kleinen Gruppen", berichtet ein Diplomat. Ein anderer sagt, es werde "noch ein paar Stunden dauern".

© SZ vom 29.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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