EU-Gipfel:Die ganze Ungeduld ist in einen Satz geflossen

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Ein Flüchtling in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo die Menschen seit der Abriegelung der Balkanroute festsitzen. (Foto: AFP)

"Die Route ist geschlossen": Merkel kämpft gegen diese EU-Erklärung zur Balkanroute und eine offene Isolierung Deutschlands. Kommt es zum Showdown, Merkel gegen den Rest?

Von Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer

Diesen Gipfel hatte sich Angela Merkel vermutlich etwas anders vorgestellt. Nämlich so: Die Bundeskanzlerin wollte sich ganz auf die Zusammenarbeit mit der Türkei konzentrieren, auf den Königsweg zur Lösung der Flüchtlingskrise, den sie vor sich liegen sieht, mit dem Ziel in Griffweite: illegale in legale Migration umwandeln, Ordnung in die Sache bringen und vor allem die Zahl der Flüchtlinge deutlich senken.

Dieses Paket, über das deutsche und europäische Emissäre seit Wochen intensiv in Ankara verhandeln, hatte Merkel schon vor dem jüngsten Gipfel vor zehn Tagen weitgehend schnüren wollen, was nicht gelang. Das wollte sie nun nachholen. Dass die Kollegen (und viele Wähler) längst die Geduld verloren haben mit Merkels Geduld, dass sie auch innerhalb Europas Grenzen schließen, um Flüchtlinge abzuwehren, dies gedachte Merkel zur Kenntnis zu nehmen - um trotzdem ihr Programm durchzuziehen.

Stattdessen steht da nun plötzlich dieser Satz: "Die Route ist geschlossen." Gemeint ist der Weg von Griechenland durch den Balkan nach Mitteleuropa, über den 2015 weit mehr als eine Million Flüchtlinge nach Europa kamen. Der Satz steht im Entwurf des Abschlussdokuments, und er kann auf Merkel am Montagmorgen nur wie eine Provokation wirken. Weil er ja nicht nur einen Zustand beschreibt - die mehr oder weniger geschlossenen Grenzen und den sich bildenden Rückstau der Flüchtlinge in Griechenland -, sondern auch als Programm verstanden werden muss. Als Gegenprogramm zum Vorhaben Merkels.

Regierungsvertreter haben seit Freitagnachmittag gefeilscht

Die Ungeduld der anderen, sie findet sich in diesem Satz konzentriert wieder. EU-Ratspräsident Donald Tusk, so ist zu hören, hat die Formulierung als Ergebnis seiner Reise durch die Balkanstaaten mitgebracht. Regierungsvertreter haben seit Freitagnachmittag gefeilscht um das Dokument. Nach dem letzten Treffen am Sonntagabend war der Satz immer noch drin. Der deutsche Verhandler will zwar seinen Protest zum Ausdruck gebracht haben, konnte ihn aber nicht tilgen.

Am Montag früh wird der nächste Versuch eingeleitet. Bis dahin war Merkel mit anderem beschäftigt. Bis kurz vor drei Uhr in der Nacht hatte sie mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoğlu zusammengesessen, um ihren Plan voranzubringen. Als Journalisten dann berichten, dass die Bundesregierung mit besagtem Satz keinesfalls zufrieden sei und ihn gerne weghaben wolle, erhält der Gipfel eine neue Dimension. Kommt es zum Showdown, Merkel gegen den Rest? Oder, noch verrückter: Merkel gegen Österreich?

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Selten jedenfalls ist ein Wiener Bundeskanzler so selbstbewusst nach Brüssel gekommen. Stolz steht er vor den Mikrofonen und sagt: "Wir werden alle Routen schließen, Schlepper sollen keine Chance haben." Er sei dafür, das mit klarer Sprache zu sagen. Ihm sei es am liebsten, dass der Satz genau so stehen bleibe. Diese klare Sprache ist man bei ihm nicht gewohnt, Faymann ist ein Meister der verklausulierten Sätze. Aber nicht an diesem Montag in Brüssel. Auch Frankreich lässt Merkel im Stich: "Diese Route ist geschlossen", sagt François Hollande grimmig.

"Das heißt, Griechenland wird jetzt den Hauptteil der ankommenden Flüchtlinge übernehmen."

Die offene Isolierung ist eine Situation, die der Bundesregierung natürlich nicht behagt, weshalb intensiv versucht wird, der Lage die Brisanz zu nehmen. Es gehe gar nicht darum, diesen Satz zu streichen, heißt es, aber er decke sich ja nicht mit der Realität, angesichts von 300 oder 400 Flüchtlingen, die noch immer täglich in Deutschland ankämen.

Und überhaupt: Beide Lager hätten dasselbe Ziel - Begrenzung des Flüchtlingsstroms. Doch das lasse sich doch nicht einfach per Gipfel-Erklärung erreichen.

Also kämpft Merkel weiter. Wenn die Zahl der illegal einreisenden Flüchtlinge zurückgehen solle - "und zwar nicht nur für einige Länder, sondern für alle Länder", wie sie mit Seitenhieb Richtung Österreich formuliert -, dann brauche man eine "nachhaltige Lösung". Und weiter redet sie dann nur noch über die Türkei. Gegen Mittag wechselt die Agenda: Davutoğlu hat die Teilnehmer mit einem neuen, viel umfassenderen Vorschlag überrascht. Die Türkei, das wird nun klar, will sich nicht mit der Rolle als Ausputzer der europäischen Probleme begnügen. Sie legt es auf ein umfassenderes Arrangement mit der EU an. Das war zwar ohnehin geplant, sollte aber nicht schon jetzt und so plötzlich zur Sprache kommen.

"Wir sind nicht hier, um nur über Migration zu verhandeln", sagt ein türkischer Sprecher. Laut einem Papier, das im Brüsseler Ratsgebäude zirkuliert, schlägt die Türkei etwas sehr Weitgehendes vor: Sie will nicht nur helfen, die Grenze zu Griechenland dichtzumachen, durch eigene Anstrengungen und die Hilfe des Nato-Einsatzes, der jetzt begonnen hat. Sondern sie verspricht auch, von einem bestimmten Zeitpunkt an alle Migranten zurücknehmen, die noch illegal das Ufer einer griechischen Insel erreicht haben, Wirtschafts- wie Kriegsflüchtlinge.

Die gewünschte Visaliberalisierung für Türken soll noch früher kommen

"Das ist ein ernsthafter Vorschlag, der angeschaut werden sollte", sagt ein Diplomat, aber Ankara verknüpft auch allerlei Bedingungen damit. Die wichtigste: Die gewünschte Visaliberalisierung soll noch früher kommen; schon Mitte des Jahres statt erst im Oktober. Was die 72 Bedingungen betrifft, welche die Türkei dafür erfüllen muss, gibt der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission eigentlich keinerlei Anlass zur Hoffnung.

Die Beitrittsverhandlungen mit der EU sollen darüber hinaus so bald wie möglich beginnen. Gleichzeitig will Ankara, dass die Europäer genauso viele Syrer aus der Türkei ausfliegen, wie Ankara zurücknimmt. Und die Türkei fordert mehr Geld: weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2018 sowie die Deckung aller Kosten für die Rückübernahme der Flüchtlinge.

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Diesen Katalog hat auch Merkel schon zu hören bekommen, in der Nacht zuvor. Was genau aber hat die Türkei dazu bewogen, den Einsatz im Spiel mit der EU so markant zu erhöhen? War das etwa abgesprochen, und wenn ja: mit wem und warum? Das bleibt zunächst offen. Jedenfalls beraumt Ratspräsident Tusk nach dem ersten Treffen mit dem türkischen Premier und den folgenden Beratungen der 28 EU-Vertreter ein weiteres Gespräch mit Davutoğlu an, ein "Turkish dinner", wie es heißt. Dessen Beginn verzögert sich am Abend ständig. Es dauert wieder einmal länger in Brüssel.

© SZ vom 08.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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