Süddeutsche Zeitung

Gipfel in Brüssel:Darüber streiten die EU-Länder

Lesezeit: 3 min

Die Staats- und Regierungschefs verhandeln über die Höhe der Corona-Hilfen und über Rechtsstaatlichkeit. Daneben gibt es weitere wichtige Themen, die noch nicht geklärt sind.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Seit drei Tagen haben die 27 Staats- und Regierungschefs gestritten, und doch gab es bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe keine Einigung. Aber schließlich geht es bei diesem Gipfel auch um viel Geld, es geht um Nationalstolz, um besondere Sensibilitäten - und die Zukunft der EU. Ein Überblick über die Streitpunkte:

Die Höhe der Zuschüsse

Die EU-Kommission schlug Ende Mai vor, 750 Milliarden Euro Schulden aufzunehmen und damit einen Corona-Hilfstopf zu füllen. 500 Milliarden Euro davon will die Behörde als nicht rückzahlbaren Zuschuss an Staaten ausschütten, die stark unter der Pandemie leiden oder deren Wirtschaft ohnehin schwächelt. Die übrigen 250 Milliarden Euro sollen als Darlehen fließen. Doch die sogenannten "Sparsamen Vier" - die Regierungen der Niederlande, Österreichs, Schwedens und Dänemarks - wollen den Anteil der Zuschüsse senken und wurden dabei auf dem Gipfel von Finnland unterstützt. Ratspräsident Charles Michel kam ihnen am Samstag entgegen, als er eine neue Verhandlungsgrundlage präsentierte. Sie sah nur noch 450 statt 500 Milliarden Euro Zuschüsse vor.

Aber das reichte nicht; wie es heißt, soll vor allem Österreichs Kanzler Sebastian Kurz auf härtere Einschnitte gedrängt haben. Das wiederum lehnen Regierungen wie die italienische und spanische ab, die stark profitieren würden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte davor, den Fonds zu "verzwergen". Sie hatte im Mai zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Hilfstopf von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen. Diplomaten zufolge gilt den Befürwortern üppiger Zuschüsse jetzt 375 Milliarden Euro als Untergrenze für einen Kompromiss.

Die Kontrolle der Hilfszahlungen

Der Großteil der Zuschüsse - 325 von nun 450 Milliarden Euro - soll über ein neues EU-Programm ausgeschüttet werden, das staatliche Investitionen und Reformen unterstützt. Regierungen sollen Pläne mit förderwürdigen Projekten für die Jahre 2021 bis 2023 aufstellen, und die Kommission will prüfen, ob diese das Land und die EU voranbringen. Zudem sollen Auszahlungen daran gekoppelt sein, dass die Regierungen bei ihren Vorhaben Zwischenziele erreichen. So weit, so unstrittig. Heftig diskutiert wurde jedoch über die Frage, wie kontrolliert und entschieden wird.

So fordert der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, dass sich Empfängerländer zu tief greifenden Reformen verpflichten, damit sie wettbewerbsfähiger werden und in der nächsten Krise nicht wieder Hilfe brauchen. Länder wie Italien (das 82 Milliarden Euro Zuschüsse aus dem Corona-Topf erhalten soll) oder Spanien wollen dagegen möglichst freie Hand haben. Um mehr Kontrolle zu gewinnen, verlangte Rutte, dass die 27 Mitgliedstaaten jede Auszahlung einstimmig billigen müssen. Dann könnte der Niederländer ein Veto gegen eine Überweisung einlegen, wenn seiner Meinung nach zum Beispiel Italien Reformversprechen nicht eingehalten und damit ein Zwischenziel verfehlt hat.

Die anderen Staats- und Regierungschefs lehnten Ruttes Vorstoß ab; sie fürchten Verzögerungen bei den dringend benötigten Finanzhilfen. Am Samstag präsentierte Ratspräsident Michel einen Kompromiss: Wie ursprünglich vorgesehen, soll die Kommission entscheiden, ob Zwischenziele erreicht wurden. Zuvor gibt aber ein Gremium der Mitgliedstaaten seine Einschätzung dazu ab. Sind die Vertreter der 27 Länder uneins, ob eine Zielmarke geschafft wurde, kann jede einzelne Regierung verlangen, dass das Geld nicht freigegeben wird, bis die Staats- und Regierungschefs oder ihre Finanzminister den Streit beigelegt haben. Ein niederländischer Diplomat bezeichnete die Einführung dieser Notbremse als "wichtigen Schritt in die richtige Richtung". Allerdings waren hier selbst am Sonntag noch viele Details zu klären - und umstritten.

Rechtsstaatlichkeit

Neben Rutte war die zweite Reizfigur bei diesem Gipfel Ungarns Premier Viktor Orbán. Der zunehmend autoritär regierende Orbán drohte sein Veto gegen den Plan an, Auszahlungen aus dem Hilfstopf oder dem EU-Haushalt erstmals an das Funktionieren des Rechtsstaats in den Empfängerländern zu knüpfen. Unterstützt wurde er dabei unter anderem von Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki - gegen ihre beiden Länder laufen Verfahren der EU wegen Sorgen um den Rechtsstaat. Die Kommission hatte schon 2018 solch einen Mechanismus vorgeschlagen; Vorkämpfer dafür sind nord- und westeuropäische Regierungen sowie das Europaparlament.

Andere offene Punkte

Der Disput über die Höhe der Geldgeschenke und die Kontrollen kostete so viel Zeit, dass auch viele andere wichtige Themen bis Sonntagabend nicht geklärt werden konnten. So sind manche Regierungen mit dem Verteilungsschlüssel für die Zuschüsse unzufrieden. Und beim EU-Haushalt gibt es ebenfalls zahlreiche Streitpunkte. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte im Mai zusammen mit dem Corona-Topf einen neuen Entwurf für den Mehrjährigen Finanzrahmen, den Brüsseler Etat für die sieben Jahre von 2021 bis 2027. Budget und Corona-Fonds sind eng verknüpft; das Geld aus dem Fonds stockt den Haushalt in den ersten Jahren massiv auf. Die Regierungen müssen sich daher nicht nur beim Fonds, sondern auch beim Haushalt einigen. Die Sparsamen Vier wollen zum Beispiel das Volumen des Etats drücken: Michel schlägt 1,07 Billionen Euro vor, doch das ist dem Quartett weiterhin zu viel.

Ebenso umstritten ist, wo gekürzt werden soll. Länder wie Frankreich, die stark von Agrarsubventionen profitieren, wehren sich gegen Einschnitte in diesem Bereich, Empfänger von Regionalförderung wiederum wollen diese schützen. Die Bundesregierung und einige Verbündete möchten mehr in Forschung, Grenz- und Klimaschutz investieren. Genau wie die Sparsamen Vier kommt Deutschland bislang in den Genuss eines Rabatts auf den Beitrag für den EU-Haushalt. Andere Staaten fordern dessen Abschaffung, aber Michel will ihn noch einmal gewähren - und erhöhte ihn am Samstag sogar für drei Staaten. Das alles bot Stoff für viele weitere Stunden erhitzter Debatten.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2020
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