Europäische Union:Liebeserklärung in düsteren Zeiten

Europäische Union: Kanzler Olaf Scholz kommt am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel an.

Kanzler Olaf Scholz kommt am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel an.

(Foto: AP)

Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt an seinem ersten EU-Gipfel teil. Es geht um Covid-19, hohe Energiepreise und russische Provokationen. Von den europäischen Genossen gibt es Vorschusslorbeeren.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Vor seinem ersten EU-Gipfel erhält Olaf Scholz eine Art Liebeserklärung. "Viele Menschen in ganz Europa setzen große Hoffnungen in dich", sagt Stanislaw Stanischew um kurz vor neun Uhr zum neuen Bundeskanzler. Der Bulgare ist Chef der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), die in Brüssel ihren Jahreskongress abhält, und der Stargast ist natürlich Olaf Scholz. Er hat Angela Merkel an der Spitze des wirtschaftsstärksten EU-Mitglieds abgelöst, wodurch die Christdemokraten nach 16 Jahren keines der vier großen EU-Länder mehr regieren.

"Nun ist unsere Zeit", verkündet die SPE, was noch zu beweisen wäre. Wahr ist: Mit Scholz und dem Spanier Pedro Sánchez haben die Sozialdemokraten wieder mehr Macht in der EU, und mit dem Liberalen Emmanuel Macron in Frankreich und dem parteilosen Mario Draghi in Italien kommen die beiden Sozialdemokraten gut aus.

Scholz reagiert gewohnt kühl auf Stanischews Schwärmerei und erläutert knapp, wieso er im Wahlkampf auf sozialen Zusammenhalt und Respekt gesetzt hat. "Zu viele Menschen mit normalen Jobs haben das Gefühl, dass man auf sie herabschaut", sagt er. Sein Sieg sei der Beweis, dass progressive Politik erfolgreich sein und das Leben der Menschen verbessern könne, doch die Arbeit gehe erst los. Die ist an diesem Tag nicht mit den gut gelaunten Genossinnen und Genossen zu erledigen, sondern mit den anderen Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel, wo allein die Agenda Nüchternheit und sorgenvolle Mienen hervorruft. Bei seiner Ankunft erklärt Scholz, dass es "um ganz, ganz wichtige Fragen" gehen werde, um "große Aufgaben".

Er nennt auch direkt ein paar Beispiele aus der prall gefüllten Agenda dieses Gipfels, von dem erwartet wurde, dass er sich bis in den späten Donnerstagabend hinziehen wird. So versichert Scholz Polen, dass die EU "alles gemeinsam unternehmen" werde, um die hybriden Angriffe von Belarus auf das Land abzuwehren. Diese Angriffe bestehen darin, dass der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Flüchtlinge an die Grenze zu Polen und Litauen schickt.

Scholz widmet zudem der "schwierigen Situation" der Ukraine ein paar Sätze, nachdem Russland Truppen an der Grenze aufmarschieren lässt. "Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist eine der ganz wichtigen Grundlagen des Friedens in Europa", sagt der Bundeskanzler. Den Kampf gegen Corona und den Klimawandel erwähnt er ebenfalls.

Ein heikler Punkt beim Thema Covid sind die Reisebeschränkungen, die Staaten wie Italien, Griechenland und Irland kürzlich gegenüber Ankommenden aus EU-Staaten verhängt haben. Als die EU im Sommer voller Stolz ihr digitales Impf-, Test- und Genesungszertifikat eingeführt hat, war das mit dem Versprechen verknüpft, dass dieser QR-Code auf dem Handy geimpften EU-Bürgern problemloses Reisen innerhalb Europas ermöglichen wird: die große Freiheit, made by Brüssel. Dies war auch lange so, aber wegen der neuen Omikron-Variante verlangen die ersten Staaten nun zusätzlich Testergebnisse, wenn ein Geimpfter aus dem EU-Ausland einreisen will. Es droht daher ein Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Regelungen - mal wieder.

Was tun gegen die hohen Energiepreise?

Der belgische Premier Alexander de Croo sagte vor Beginn des Gipfels, die Lösung dieses Dilemmas sei das Boostern. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis äußerte sich ähnlich und beteuerte, dass die Einschränkungen seiner Regierung nur für die Weihnachtszeit gelten sollten, um genügend Zeit für Booster-Impfungen zu gewinnen. In den Gipfel-Schlussfolgerungen zum Thema Covid heißt es lediglich, etwaige Beschränkungen sollten das Funktionieren des Binnenmarkts nicht untergraben und die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU nicht "unverhältnismäßig" behindern.

Lange debattiert wurde wie schon beim Spitzentreffen im Oktober über die hohen Energiepreise. Einige Regierungen, etwa die französische und spanische, verlangen Änderungen beim Design der EU-Energiemärkte; andere - darunter die deutsche - warnen davor, weil die Märkte ihrer Ansicht nach gut funktionieren und die gestiegenen Preise einfach Ergebnis von Angebot und Nachfrage sind. Obwohl die entsprechenden Schlussfolgerungen sehr allgemein gehalten waren, um die Meinungsunterschiede zu überbrücken, konnte zunächst kein Konsens erzielt werden; EU-Ratspräsident Charles Michel wollte das Thema später erneut aufrufen.

Es gibt Langusten und Rind, plus Kastanien-Kuchen

So macht Scholz bei seiner Premiere eine für EU-Gipfel typische Erfahrung: Der Zeitplan verschiebt sich. Eigentlich sollten die 27 Staats- und Regierungschefs zum Mittagessen über die Lage in der Ukraine und Belarus sowie den Umgang mit Russland debattieren - ohne Mobiltelefone im Raum. Dieser Tagesordnungspunkt wurde erst am frühen Abend aufgerufen, die Teller mit Langusten und Rindfleisch sowie das Dessert, ein Kastanien-Kuchen, wurden zwischendurch serviert.

Wie erwartet haben die EU-Mitglieder nicht genau ausbuchstabiert, welche massiven Konsequenzen Russland bei einer weiteren militärischen Aggression gegenüber der Ukraine zu erwarten hätte. So soll Wladimir Putin im Ungewissen gehalten werden.

Die Pressekonferenz, auf der Reporterinnen und Journalisten versuchen können, dem neuen Bundeskanzler Details über diese Frage und seine Eindrücke zu entlocken, wurde für den späten Abend oder frühen Morgen erwartet. Jene legendäre Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit bei Brüsseler Gipfelnächten, für die Angela Merkel so berühmt war, muss ihr Nachfolger noch beweisen.

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