Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:EU will Türkei weitere 3,5 Milliarden Euro an Flüchtlingshilfe zahlen

Damit will die EU-Kommission das Migrationsabkommen erhalten. Das Thema steht auf der Agenda des EU-Gipfels - und die Debatten dürften kompliziert werden.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Für einen besonderen Gast reisen Europas Staats- und Regierungschefs schon mal ein paar Stunden früher nach Brüssel. António Guterres ist als UN-Generalsekretär bestätigt worden, und als ehemaliger Premierminister Portugals weiß er, wie wichtig die offenen Diskussionen bei einem EU-Gipfel sind. Beim Mittagessen mit Guterres am Donnerstag dürften bereits einige Themen zur Sprache kommen, die danach das zweitägige Spitzentreffen prägen werden: Wie bringt man Russland dazu, international kooperativer zu sein, und was kann die EU zur globalen Bewältigung der Corona-Pandemie beitragen?

Auf Drängen Italiens steht Migration auf der Agenda des EU-Gipfels, und kompliziert dürften die Debatten über die Beziehungen zur Türkei werden. Ende März hatten die EU-27 Ankara eine "Positivagenda" angeboten, doch das Ergebnis war nur, dass weitere türkische Provokationen im östlichen Mittelmeer ausblieben. Über "wenig Fortschritte" klagte jüngst Deutschlands EU-Botschafter Michael Clauß im Kreise seiner Kollegen. Dennoch warb er für eine "Stabilisierung" der Situation, damit diese "nicht in ein Szenario wie vor rund einem Jahr" abgleite. So steht es in einem Drahtbericht von Clauß, einem internen Protokoll für die Bundesregierung, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Dass es "vor rund einem Jahr" beinahe zum militärischen Konflikt zwischen den Nato-Mitgliedern Türkei und Griechenland gekommen wäre, wissen in Brüssel alle - aber nicht alle ziehen die gleichen Konsequenzen. Neben Zypern und Griechenland fordern auch Frankreich, Österreich und Belgien mehr Härte gegenüber Ankara und eine "zurückhaltende Sprache", was Angebote angeht. Dem türkischen Drängen nach mehr Wirtschaftskooperation dürfte also nicht nachgegeben werden. Der Entwurf der Abschlusserklärung nimmt nur zur Kenntnis, dass "die Arbeit zur Modernisierung der Zollunion" aufgenommen wurde.

Weniger strittig ist in der EU, den 2016 geschlossenen Migrationsdeal mit der Türkei zu verlängern. Dies liege "im strategischen Eigeninteresse", findet nicht nur die EU-Kommission. Am Dienstagabend schickte die Behörde einen Vorschlag an die Mitgliedsländer, den diese in Auftrag gegeben hatten - im Behördenjargon ein sogenanntes "inoffizielles Papier". Es liegt der SZ ebenfalls vor. Darin wird die Türkei dafür gelobt, etwa 3,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien zu beherbergen. Bis 2024 sollen laut Kommission 5,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden, damit sich Nichtregierungsorganisationen in der Türkei sowie in Jordanien, Libanon und Syrien um Flüchtlinge kümmern können.

Die EU koppelt Entwicklungshilfe an Migrationskontrolle

Wie bisher soll kein Geld direkt an die Regierungen fließen, es geht um konkrete Hilfsprojekte. 3,5 Milliarden Euro sind für die Türkei vorgesehen, um "die dringendsten Bedürfnisse" zu finanzieren, etwa Schulen, Gesundheitsvorsorge und Weiterbildung. Was im Vorschlag aus dem Hause Ursula von der Leyens noch fehlt: aus welchen Programmen die Kommission die Milliarden nimmt und wie stark sich die Mitgliedstaaten beteiligen. Sie werden "gebeten", gerade für die Unterstützung Libanons, Jordaniens und Syriens weitere Beträge zu leisten. Über die Grundzüge des Plans habe von der Leyen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Telefon gesprochen, heißt es aus der Kommission. Man wolle die Gipfeldiskussion abwarten und sich auch noch mit dem Europaparlament beraten.

In der Debatte um die Migrationspolitik dürfte die große Mehrheit der Staats- und Regierungschefs ein Interesse daran haben, sich auf deren externe Dimension zu beschränken - also nicht über eine EU-interne Verteilung der Flüchtlinge und über gegenseitige Hilfe zu diskutieren. Diese Themen sind noch immer vergiftet. Die Verhandlungen über den Asyl- und Migrationspakt, den die Kommission im Herbst 2020 vorgelegt hat, stagnieren. Eine Paketlösung gilt weiterhin als wahrscheinlich. Was bedeutet: Nur wenn alle Fragen auf einmal geklärt würden - also sowohl die Finanzierung für den Schutz der Außengrenzen als auch eine Umverteilung der Flüchtlinge oder zumindest Solidarität durch Zahlungen -, könne es beim Pakt eine Einigung geben. Als sicher gilt, dass Italiens Premier Mario Draghi auf die wachsende Zahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge hinweisen wird. Allerdings betonten Diplomaten zuletzt, dass sich Rom beim Migrationspakt wenig kooperativ zeige; zudem liege die Zahl der in Italien gestellten Asylanträge unter dem EU-Durchschnitt.

Zügig soll die Kommission nun Aktionspläne mit den "vorrangigen Herkunfts- und Transitländern" ausarbeiten, um etwa Fluchtursachen zu bekämpfen, heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung. Auch Deutschland hat in Vorgesprächen darauf gedrängt, "mindestens zehn Prozent der Finanzausstattung" des neuen Entwicklungshilfe-Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungs- und internationale Zusammenarbeit "für Maßnahmen im Zusammenhang mit Migration zu nutzen". Hier geht es um eine Summe von etwa acht Milliarden Euro.

Dies stößt auf Kritik von Franziska Brantner, der Europa-Expertin der Grünen im Bundestag: "Die Bundesregierung pocht darauf, europäische Entwicklungsgelder daran zu knüpfen, dass Länder Migration in die EU verhindern. Dafür will sie die Türkei mit Samthandschuhen anfassen und setzt auch bei Russland auf Appeasement." Der SZ sagt sie, dies sei "alles kurzfristig gedacht und kontraproduktiv".

Verwunderung über deutsch-französischen Vorschlag

Als Basis für die Debatte über den Umgang mit Russland dient ein Bericht des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Unstrittig ist dessen Feststellung, dass das Verhältnis zu Moskau "historisch schlecht" sei. Zuletzt hatten die Botschafter mehrerer Regierungen davor gewarnt, die sogenannten fünf Prinzipien, die seit 2016 die Haltung der EU gegenüber Russland bestimmen, durch die Hintertür abzuschaffen. Diesen Prinzipien zufolge können die Sanktionen nur aufgehoben werden, wenn der Krieg in der Ostukraine vorher beendet wird.

Für eine Mischung aus Unruhe und Verwunderung sorgten am Mittwoch deutsch-französische Pläne, wieder über Spitzentreffen zwischen der EU und Russland nachzudenken. Demnach möchten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Diskussion darüber führen, "die Dialogformate zu prüfen, darunter auch Spitzentreffen". Das könnte bedeuten, dass Russlands Präsident Wladimir Putin wieder nach Brüssel kommen könnte - das letzte Mal fand ein EU-Russland-Gipfel im Januar 2014 statt, kurz vor der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim.

Nach dem Genfer Gipfel zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden ist man in Berlin und Paris wohl überzeugt, dass über wichtige Themen die EU selbst mit Putin reden müsse, etwa über Klimaschutz. Dies würde dazu beitragen, eine einheitliche EU-Position zu finden, bei der auch weitere Sanktionen nicht ausgeschlossen werden. Am Mittwochabend sollten die EU-Botschafter erneut beraten. Ein hochrangiger EU-Diplomat erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs darüber "lebhafte Diskussionen" beim Gipfel führen werden.

Dort wird es auch um die Pandemiebekämpfung gehen, etwa die Impfstoffversorgung und das digitale EU-Impfzertifikat. Heikel könnte das Thema Corona-Einreisebeschränkungen werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel klagte bei einer Pressekonferenz mit von der Leyen, dass es der EU immer noch "nicht gelungen ist, ein ganz einheitliches Verhalten der Mitgliedstaaten bezüglich der Reisebestimmungen zu haben". Dies schlage nun zurück. Sie verwies auf Portugal und sagte, dass sich mit mehr Abstimmung die Lage dort vielleicht nicht verschlechtert hätte.

Portugal hatte britische Touristen ins Land gelassen, obwohl das Vereinigte Königreich nicht auf der - für Regierungen unverbindlichen - EU-Liste sicherer Staaten steht. Schließlich wütet in Großbritannien die gefährliche Delta-Variante des Virus. Pikant ist Lissabons Schritt auch, weil Portugal bis Ende Juni die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat und daher Vorbild in Sachen Koordinierung sein sollte.

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