EU-Gipfel:Optimismus in Brüssel

Macron statt Le Pen und eine wohlwollende May sorgen für gute Laune auf dem EU-Gipfel. Doch die Reaktionen der EU-Chefs auf die Brexit-Angebote der Briten fallen verhalten aus.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Erstaunlich, wie schnell der politische Wind sich drehen kann. Wie weggeblasen scheinen Schwermut und Düsternis auf einmal zu sein, die seit Monaten über Europa schwebten. Jetzt scheint wieder die Sonne. Natürlich ist dieses Bild auch politisch so gewollt, und die Teilnehmer des zweitägigen EU-Gipfels hatten sich erkennbar vorher verabredet, es nach außen hin in leuchtenden Farben zu malen. Und doch gibt es konkrete Gründe für den Brüsseler Optimismus.

Da ist zunächst die schiere Freude und Erleichterung, eben nicht einer Marine Le Pen gegenüberzusitzen, die zerstören will, was Generationen aufgebaut haben, sondern einem neuen französischen Präsidenten, der mit Deutschland "Hand in Hand" arbeitet, einen Euro-Finanzminister sowie einen europäischen Haushalt fordert und sichtlich Bewegung in die EU-Politik bringt.

Frisch und gut vorbereitet sei Emmanuel Macron vor die Kollegen getreten, ist zu hören. "Kreativität" habe sie bemerkt, lobt Bundeskanzlerin Angela Merkel, und "den Geist, schnell voranzukommen". Sie lobt die "sehr enge und gute Zusammenarbeit mit Frankreich", die zu den "sehr guten Ergebnissen" beigetragen habe.

Theresa May zeigt sich offenbar wohlwollend

Reibungslos einigt sich die Runde der 28 etwa auf eine Stärkung der gemeinsamen Verteidigungspolitik, begrüßt die Idee, einen Verteidigungsfonds einzurichten und bei der Rüstung stärker gemeinsam voranzugehen. Schnell ist auch vereinbart, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland um sechs Monate zu verlängern, wegen ausbleibenden Fortschritts bei der Umsetzung des Minsker Abkommens. Zudem stellen sich die 28 Länder demonstrativ hinter das von US-Präsident Donald Trump aufgekündigte Pariser Klimaabkommen.

Und dann kommt Theresa May mit ihren "fairen und ernsthaften" Vorschlägen, betreffend die künftigen Rechte der nach dem Brexit in Großbritannien verbleibenden EU-Bürger. Sie würden nicht ausgewiesen, jubelte mancher nach dem ersten Lesen. Aber von diesem Schritt war ohnehin nie die Rede gewesen.

Wer bis zu einem noch festzulegenden Stichtag zwischen Austrittserklärung und tatsächlichem Brexit fünf Jahre in Großbritannien gelebt habe, soll einen ordentlichen Aufenthaltsstatus bekommen. Man werde anstreben, sie bei Krankenversicherung, Ausbildung, sozialen Ansprüchen und Renten so zu behandeln wie britische Staatsbürger.

Allerdings können alle EU-Bürger, die bis zum Stichtag im Land waren, so lange bleiben, bis sie die Fünf-Jahres-Frist erreicht haben. Konnten Mays Aussagen als eine Art Friedensangebot verstanden werden oder zumindest als Geste des Wohlwollens? Die EU-Seite reagierte vorsichtig. Ein "guter Anfang", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht von einem "ersten Schritt", der aber "nicht ausreichend" sei. In EU-Kreisen wird bezweifelt, dass das britische Angebot Richtung Brüssel so großzügig sei wie umgekehrt das Angebot der Union für britische Bürger. Darüber soll nun zunächst das Team von EU-Verhandlungsführer Michel Barnier befinden.

Macron trifft die Regierungschefs der Visegrád-Gruppe

Die bemerkenswerte Eintracht der 27, was das britische Ausscheiden betrifft, bleibt jedenfalls bestehen. Was sich auch in den genau vier Minuten äußert, die es dauert, bis man sich auf das Verfahren zur Vergabe der beiden großen EU-Agenturen einigt, die bisher in London ansässig sind.

Also nur Friede und Freude? So ist es nun auch nicht. Am Morgen treffen sich die Regierungschefs von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei mit Macron. Die Begegnung der Visegrád-Gruppe mit dem Franzosen ist schon länger angesetzt, aber ein Interview Macrons mit der Süddeutschen Zeitung und weiteren Blättern unmittelbar vor dem Gipfel verleiht dem Treffen Brisanz.

Macron hatte die östlichen Mitglieder ermahnt, die EU sei kein "Supermarkt", in dem man sich nach Belieben bedienen könne, ohne sich an die Werte zu halten. Merkel schließt sich beim Gipfel der Linie Macrons an. "Wir sind eine Wertegemeinschaft. Das drückt sich auch in unserer Charta, in unserem Vertragswerk aus. Es gibt vertraglich auch Möglichkeiten, dies einzufordern", sagt sie. Damit stützt sie die EU-Kommission, die von Polen Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz einfordert und gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat im Streit über eine private Universität.

Bei Fragen zur Handelspolitik sind die EU-Staaten nicht einer Meinung

Im Anschluss an das Treffen mit Macron spricht der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka von einer "sehr offenen Debatte". Man habe sich darauf verständigt, intensiver miteinander zu reden. Deutlicher wird der polnische Europaminister Konrad Szymański. "Wir zählen darauf, dass der politische Dialog zwischen Frankreich und den Ländern Mitteleuropas in ordentlicheren Bahnen verläuft, ohne Stereotype, ohne Klischees, ohne Formulierungen, die bisweilen als beleidigend aufgefasst werden können", sagt er.

"Wenn wir effektiv sein wollen, brauchen wir mehr Verständnis füreinander und mehr Vorsicht bei der Wortwahl." Es gebe keinen Wertekonflikt, wohl aber unterschiedliche Interpretationen dieser Werte. Und: "Wir akzeptieren kein Diktat der Interpretation dieser Werte durch andere Mitgliedstaaten oder durch Institutionen der Union."

Auch in der Handelspolitik offenbart sich ein Dissens. Während die Benelux-Staaten, Irland, Schweden und Dänemark als absolute Verfechter des freien Handels auftreten, dringt Macron auf "ein Europa, das die Bürger beschützt". Die EU sei quasi der einzige Wirtschaftsraum, der sich nicht gegen Bedrohungen von außen wehre, betont Macron.

Erstmals sprechen die Staats- und Regierungschefs über die Änderungen für den Freihandel nach dem Brexit-Votum

Die Bundesregierung hat nach dem Brexit-Votum der Briten einen engen Verbündeten in Sachen Freihandel verloren und sieht sich offenbar gezwungen, dem neuen Präsidenten in Paris entgegenzukommen. Deutschland fühlt sich zudem in der Pflicht, auf die Gefahr ausländischer Investoren, allen voran aus China, zu reagieren. Der Fall des Augsburger Robotik-Unternehmens Kuka hatte in Deutschland eine Debatte über den möglichen Ausverkauf deutscher Technologie ausgelöst.

Die Staats- und Regierungschefs sprechen am Freitag erstmals über dieses Problem. Dem Entwurf der Gipfel-Schlussfolgerungen zufolge soll die EU-Kommission nun prüfen, wo Übernahmen von strategisch wichtigen Firmen untersagt werden könnten. Hintergrund sind etwa Stahlimporte aus China sowie chinesische Übernahmen von Firmen in der EU.

"Das Vorhaben ist politisch heikel", warnt ein EU-Diplomat, "denn wie wollen wir definieren, was eine strategische Bedrohung unserer Industrie ist?" Außerdem sei stets das Thema Reziprozität zu bedenken, denn die Chinesen und andere würden auf die Maßnahmen der Europäer entsprechend reagieren.

Juncker macht sich keine großen Hoffnungen auf das Einlenken ostmitteleuropäischer Staaten in der Flüchtlingspolitik

Und dann ist da noch das Thema, das die Europäer wie kaum ein anderes auseinander dividiert: die Migration. Vor allem die "äußeren Aspekte" wurden in den Blick genommen, also Ideen, wie die stockende Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer ausgeweitet werden könnte oder wie man die Flüchtlinge davon abhält, sich überhaupt auf den Weg über das Mittelmeer zu machen.

Ohne eine funktionierende Regierung in Libyen, dem Haupttransitland Richtung Europa, wird sich vorerst wenig ausrichten lassen. Die EU will aber ihre Anstrengungen bei der Ausbildung libyscher Grenzschützer verstärken, die Migranten künftig in eigenen Gewässern aufgreifen und an Land zurückbringen sollen. Was die "internen" Aspekte der Migration betrifft, ist ohne keinerlei Fortschritt in Sicht.

Länder wie Polen, Ungarn und Tschechien widersetzen sich weiterhin jeglichem Vorschlag, die an den Außengrenzen ankommenden Flüchtlinge gerecht auf alle EU-Staaten zu verteilen. Er mache sich nicht "allzu große Hoffnungen" auf ein Einlenken, sagte Juncker. Man werde aber nicht aufgeben: "160 000 Leute in Europa umzuverteilen, das ist 0,035 Prozent der Gesamtbevölkerung Europas. Das muss Europa schaffen." Vielleicht schafft Europa das. Aber es könnte noch sehr lange dauern.

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