Polens Ministerpräsident Donald Tusk ging an diesem Donnerstagabend als Sieger vom Platz, und er war nicht der einzige. Stundenlang hatten die Staats- und Regierungschefs der EU am Nachmittag über irreguläre Migration debattiert, als sich ihre diplomatischen Berater zurückzogen, um einen neu entworfenen Absatz in der Schlusserklärung des Brüsseler Gipfeltreffens zu studieren. Einen Absatz, der die Situation an der polnischen Grenze zu Belarus würdigen sollte. Russland und sein verbündetes Nachbarland schicken beständig und gezielt Migranten nach Polen, als Teil ihrer hybriden Kriegsführung. „Außergewöhnliche Situationen erfordern angemessene Maßnahmen“, so stand es dann am Ende in Bezug darauf in dem Gipfeldokument.
Damit hatte sich Tusk die größtmögliche Unterstützung abgeholt, einstimmig beschlossen im Kreise der 27 EU-Staaten, unterstützt von der Europäischen Kommission und deren Präsidentin. Derselbe Tusk hatte erst vor wenigen Tagen angekündigt, zeitweise das Recht auf Asyl aussetzen zu wollen, um die Lage an der belarussischen Grenze in den Griff zu bekommen. Jetzt hat er zwar noch keinen Freibrief, wegen einer „außergewöhnlichen“ Lage vorübergehend ein Grundrecht abzuschaffen – aber die Aussicht darauf, dass er das Recht wird biegen können, bis es knirscht. Was „angemessen“ ist? Das bedarf der Auslegung, für die der Spielraum jetzt groß ist.
Giorgia Melonis Albanien-Modell wird wohlwollend beäugt
Allein dieser polnische Erfolg zeigt: Die EU ist bereit, im Umgang mit der irregulären Migration weiterzugehen als je zuvor. Diese neue Härte ist die zentrale Botschaft des Gipfels, sie gibt die Linie vor für die nächsten Spitzentreffen. Den gerade erst beschlossenen Asylpakt wollen etliche Staaten nicht nur schneller umsetzen, sondern auch nachschärfen. Das Modell von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, Asylbewerber nach Albanien zu verschiffen, wird zu ihrer Freude teils wohlwollend beäugt.
Von der Kommission verlangen die Staats- und Regierungschefs, schnellstmöglich ein neues Gesetz für raschere Rückführungen vorzulegen. Darin könnte dann auch der Vorschlag von Ursula von der Leyen ausformuliert werden, außerhalb der EU sogenannte return hubs, also Abschiebelager, zu errichten, um abgelehnte Asylbewerber vom EU-Territorium zu entfernen.
Für solche Ideen haben sich in der EU-Diplomatie Begriffe wie „innovative Lösungen“ eingebürgert. In den Schlussfolgerungen des Gipfels ist nun von „neuen Wegen“ gegen irreguläre Migration die Rede, die erwogen werden sollten. Der pflichtschuldige Zusatz „im Einklang mit dem EU- und dem Völkerrecht“ liest sich da wie eine salvatorische Klausel. Dänemarks sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, bekannt für ihre Strenge in Migrationsfragen, fühlte sich bestätigt: Bisher sei das Ansprechen solcher Themen „ein wenig wie Rufen in einer leeren Sporthalle“ gewesen, sagte sie. Jetzt gebe es „viele Länder, die in dieser Frage zusammenarbeiten“.
Kommissionschefin von der Leyen absolviert einen vielsagenden Fototermin
Es waren zumindest einige Länder, die ihre engere Zusammenarbeit auch mit Fotos dokumentierten. Vor dem Gipfel saßen Frederiksen, Meloni und der neue niederländische Premier Dick Schoof mit acht Amtskollegen zusammen, inklusive Ungarns Premier Viktor Orbán –und zusätzlich Kommissionschefin von der Leyen. Man habe unter anderem über deren Abschiebezentren diskutiert, war später zu hören. Und das demonstrativ ohne Deutschland und Frankreich, womit dieser Gipfel vor dem Gipfel deren schrumpfenden Einfluss illustrierte.
Einige Teilnehmer der Morgenrunde sprechen sich auch dafür aus, dass die EU wieder formelle politische Beziehungen zu Syrien aufnimmt. Die gibt es seit 2011 nicht mehr. Zuvorderst Italien verlangt danach, vor allem, um syrische Flüchtlinge wieder in das vom Krieg zerstörte Land abschieben zu können. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer fordert sogar, Syrien als sicheres Herkunftsland einzustufen.
Der Druck, die Haltung zu Syrien zu überdenken, steigt wegen der Lage in Libanon. Mehr als 300 000 Menschen sind laut EU-Kommission vor dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ins Nachbarland geflohen. Mehr als zwei Drittel seien Syrer, die einst in Libanon Zuflucht gesucht hatten, wo die EU maßgeblich ihre Versorgung finanzierte. Das fortzusetzen, wird ohne Beziehungen zum Regime von Baschar al-Assad kaum gelingen. Noch ist das nicht konkret, aber nach Aussagen in diplomatischen Kreisen auch nur noch eine Frage der Zeit.
Olaf Scholz hat eine „sehr konstruktive Atmosphäre wahrgenommen“
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz arbeitet bereits daran, zumindest straffällige Asylbewerber wieder nach Syrien abschieben zu können, wie es auch schon im Fall von Afghanistan geschieht. Er freute sich nach dem Gipfel darüber, wie sachlich die Auseinandersetzung mit der Migration verlaufen sei. Zuvor seien die Debatten oft aufgeregt und lang gewesen. „Das war diesmal ganz anders. Ich habe eine doch sehr konstruktive Atmosphäre wahrgenommen“, sagte Scholz.
Seinem Amtskollegen aus Warschau maß er bei, dass die Situation an der Grenze zu Belarus außerordentliche Anstrengungen erfordere. „Und wer der polnischen Regierung abspricht, sich mit dem Problem beschäftigen zu dürfen, der handelt nicht verantwortlich“, sagte Scholz, vermied aber einen Kommentar zu Tusks Vorhaben, das Asylrecht auszusetzen. Was Polen am Ende umsetze, in Abstimmung mit der EU-Kommission, das sei ja bisher nicht klar.
Offen bleibt auch, ob eine Wende in der Migrationspolitik tatsächlich zustande kommt. Die allgemein härtere Gangart mag neu sein, die Ankündigungen sind es nicht. Man schaue nur in die Gipfelerklärung von November 2015: Inmitten der damaligen Flüchtlingskrise hatten die Teilnehmer auch beschlossen, die Außengrenzen besser schützen zu wollen, Abschiebungen zu beschleunigen und Fluchtursachen effektiver zu bekämpfen.