Europäische Union:Von Lügen und Fehleinschätzungen

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German Defense Minister Ursula von der Leyen, who has been nominated as European Commission President, attends a news conference during a visit at the European Parliament in Strasbourg

Am Ende einer höchst komplexen diplomatisch-politischen Aktion stand ihre Nominierung für den wichtigsten Posten in der EU: Ursula von der Leyen muss nun das EU-Parlament überzeugen.

(Foto: Vincent Kessler/Reuters)

Ein Machtkampf in vier Akten, in Vor- und Hinterzimmern: Wie Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission nominiert wurde.

Von Daniel Brössler, Berlin, Matthias Kolb, Stefan Kornelius und Alexander Mühlauer, Brüssel

- Nun schlägt die Stunde der Konspiratoren. "Es gab mächtige Kräfte", orakelt Manfred Weber nach seiner Niederlage im Europäischen Rat. "Die Achse Macron und Orbán" sei es gewesen, Vokabeln wie Hinterzimmer und Nachtsitzung werden zur Untermalung der düsteren Szenerie bemüht.

Was der CSU-Mann und Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) nicht sagt: Eine dieser sogenannten Nacht- und Hinterzimmersitzungen hat er selbst maßgeblich gesteuert. Sie fand am Mittwoch vergangener Woche im Berliner Kanzleramt statt. Mit dabei außer Weber und der Gastgeberin Angela Merkel: die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, CSU-Chef Markus Söder und der EVP-Vorsitzende Joseph Daul.

Die Runde traf sich mitten im Chaos um die Besetzung der Spitzenpositionen in der EU. Versammelt waren also mächtige EVP-Repräsentanten. Es musste geklärt werden, welches Schicksal Manfred Weber nun widerfahren sollte.

Weber hatte beim EU-Gipfel in der Woche davor den massiven Widerstand diverser Regierungschefs gegen seine Bestellung als Kommissionspräsident gespürt. Am Dienstag nach dem Gipfel dann der zweite Schlag bei einem Abendessen im Brüsseler Restaurant De Warande. Dort hatten sich die Fraktionschefs der großen Parteienfamilien aus dem Parlament zum Menü versammelt - auch so ein Hinterzimmer, wenn man möchte. Sie wollten feststellen, wie geschlossen das Parlament gegen den Rat stehen würde.

Das Ergebnis des Abends: Einen Aufstand des Parlaments zugunsten des EVP-Kandidaten würde es jedenfalls nicht geben. Weber hatte also weder eine Mehrheit im Europäischen Rat noch im Europapaparlament.

Beim G20-Gipfel in Osaka vergrößerte sich das Problem. Einige spielten nicht offen

So saß die deutsche EVP-Mannschaft schließlich im Kanzleramt und musste entscheiden. Sicher waren zu diesem Zeitpunkt zwei Dinge: Weber würde nicht Kommissionspräsident werden. Und die Regierungschefs hatten sich nach ihrer ersten erfolglosen Gipfelrunde am Donnerstag und Freitag darauf verständigt, dass nun das für Brüssel und Straßburg typische Besetzungsverfahren angewendet würde: Die stärkste Fraktion erhält den ersten Zugriff, die zweitstärkste den zweiten und so weiter.

Weber und Daul mussten sich also entscheiden, welchen Job sie für die EVP reklamieren möchten. Die Antwort: Um das Spitzenkandidaten-Verfahren zu retten, verzichtete die EVP auf die Kommissionsspitze, Weber beanspruchte stattdessen das Amt des Parlamentspräsidenten. Die logische Folge: Den Sozialdemokraten wurde der zweite Zugriff ermöglicht, und sie reklamierten für ihren Kandidaten Frans Timmermans prompt den Präsidentenstuhl der EU-Kommission.

Die Episode in Berlin ist nur ein Glied in einer Kette von Fehleinschätzungen, die Europas Spitzenpersonal anderthalb Wochen lang in Atem gehalten hat. Eine Rekonstruktion der Ereignisse zeigt, dass unmittelbar nach dem Kanzleramtstreffen das Problem nur vergrößert wurde - auf dem G-20-Gipfel in Osaka. Dort traf sich eine illustre Runde zur Vorabsprache: Die Präsidenten und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Spanien sowie der Ratschef Donald Tusk. Ihr "Kompromiss von Osaka" geriet freilich zum Rohrkrepierer.

Ratspräsident Donald Tusk verbrachte die Nacht mit Beichtstuhl-Gesprächen

Merkel muss nach Osaka gereist sein in der Annahme, dass der Kanzleramts-Deal Bestand haben könnte: Timmermans erfährt breite Unterstützung im Parlament für die Kommission, Weber wird Parlamentspräsident. Tatsächlich scheinen einige der Japan-Reisenden aber nicht mit offenen Karten gespielt zu haben. Macron jedenfalls hätte seinen Widerstand gegen Timmermans auch in Osaka zu Protokoll geben können. Merkel indes bemühte sich, sowohl Weber wie auch dem Spitzenkandidaten-Prozess weiter gerecht zu werden.

Sie sollte zwei Tage später, beim EU-Sondergipfel in Brüssel, ihr Wunder erleben. Dort nämlich war der Widerstand der kleinen und besonders der von der EVP geführten Staaten nicht mehr zu ignorieren. Plötzlich stellten sich die konservativen Regierungschefs aus Irland, Kroatien und Lettland gegen die deutsche Kanzlerin. Sie alle pochten darauf, dass die EVP als Wahlsiegerin auf das mächtigste Amt zugreifen sollte, das die EU zu vergeben hat: das des Kommissionspräsidenten.

Jetzt wurde es Zeit für eine Generalinventur. Im Europäischen Rat heißt das: Beichtstuhlverfahren. Der Präsident des Rates, der Pole Donald Tusk, empfängt dazu nach und nach jeden Staats- und Regierungschef zum Einzelgespräch und stellt allen die gleichen Fragen. Einzig mit dabei im Raum ist der Protokollant, der Generalsekretär des Rates. Die Antworten werden auf großen Bögen notiert, so entstehen Zug um Zug Schnittmengen, Themen und Anknüpfungspunkte. Will Tusk mit jedem Ratsmitglied nur gut zehn Minuten reden, kommen bei 28 Nationalfürsten bereits vier Stunden zusammen.

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