Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Ein Gipfel, der Ansprüche an sich selbst stellt

  • In Brüssel stimmt man sich vor dem ersten Gipfel unter der neuen EU-Kommission auf das ehrgeizige Ziel ein, bis 2050 klimaneutral zu werden.
  • Das Vorhaben spielt auch eine wichtige Rolle in den Haushaltsverhandlungen, die aktuell noch laufen.
  • Deutschland ist dagegen, den Etat über ein bestimmtes Maß zu erhöhen.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Charles Michel behält das Ritual des Briefeschreibens bei. Seit Dezember ist er EU-Ratspräsident, und vor seinem ersten Gipfel skizziert er wie Vorgänger Donald Tusk in seiner Einladung die Tagesordnung und eigene Prioritäten. "Ich will, dass wir uns auf das Bekenntnis einigen, dass die EU 2050 klimaneutral wird", schreibt Michel und mahnt die Staats- und Regierungschefs, Europa könne bei diesem entscheidenden Thema "eine weltweite Führungsrolle" einnehmen.

Bereits im dritten Satz formuliert er eine Forderung, die dem früheren Premier Belgiens sehr wichtig ist, wie EU-Diplomaten sagen: Die leaders sollen "strategische Leitlinien" vorgeben, um die Arbeit voranzutreiben. Er erwartet also Richtungsentscheidungen für eine wahrhaft globale Herausforderung: Wie kann die Erderhitzung gebremst und die Wirtschaft entsprechend umgebaut werden, ohne die Bedürfnisse der Bürger aus dem Blick zu verlieren? Diese Fragen soll der Europäische Grüne Deal von Ursula von der Leyen beantworten, die zum ersten Mal als Kommissionspräsidentin an einem Gipfel teilnimmt.

Am Tag vor dem Treffen mit den Staats- und Regierungschefs präsentierte sie ihr Vorhaben im EU-Parlament. Dort machte sie erneut deutlich, dass die Umstellung auf eine moderne Wirtschaft nicht nur durch private Investitionen gelingen wird - ohne freilich genau zu sagen, wie viel von der für den Wandel veranschlagten Gesamtsumme von 100 Billionen Euro für die kommenden sieben Jahre dann doch aus dem EU-Haushalt stammen soll. Polen, Tschechien und Ungarn pochen jedoch auf finanzielle Unterstützung, bevor sie sich dem Ziel anschließen wollen, bis 2050 klimaneutral zu werden, also einen Zustand zu erreichen, in dem der Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre nicht weiter erhöht wird.

Der zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans sagte, dass nicht nur Länder, in denen Kohle noch eine große Rolle spielt, Hilfe benötigen könnten. "Auch Regionen mit veralteter Industrie sind von der Umstellung betroffen", sagte er am Mittwoch im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Jetzt gehe es darum, allen klarzumachen, dass jene Menschen, für die die Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft die größte Herausforderung sei, auch jene sein würden, die am stärksten zu leiden hätten, wenn diese Umstellung nicht gelänge. "Das ist für uns die härteste Nuss", sagt Frans Timmermans.

Zaudernde Staaten mit Hilfszusagen zu überzeugen, wäre allerdings einfacher, würde Klarheit zum EU-Etat herrschen. Die Länder verhandeln gerade über den Haushaltsrahmen für die Jahre von 2021 bis 2027; der sogenannte Mittelfristige Finanzrahmen ist auch Thema beim Gipfel. Doch die Positionen liegen weit auseinander, eine Einigung wird frühestens im ersten Halbjahr 2020 erwartet. Die Gespräche sind schwierig, weil mit Großbritannien ein wichtiger Beitragszahler austritt: Diese Lücke muss gefüllt werden. Die Staats- und Regierungschefs werden über einen Kompromissvorschlag der finnischen Regierung sprechen - das Land hat gerade die Ratspräsidentschaft inne. Aber EU-Diplomaten erwarten ein "Massaker", denn wirklich glücklich sind nur wenige Regierungen mit den präsentierten Zahlen.

Muscat und Johnson könnten fehlen

Die Finnen schlagen vor, dass die EU in den sieben Jahren insgesamt bis zu 1,087 Billionen Euro ausgeben darf. Das entspricht 1,07 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU - ohne Großbritannien. Im jetzigen Haushaltsrahmen, der bis 2020 läuft, ist es nur ein Prozent, aber da wird die Wirtschaftskraft des Königreichs noch miteinbezogen. Fünf Netto-Zahler - also Länder, die mehr überweisen als sie zurückbekommen - dringen darauf, dass sich die EU trotz Brexit weiter mit diesem einen Prozent begnügen soll.

Die Bundesregierung gehört zu diesem sparsamen Quintett. Berlin argumentiert, dass die deutschen Beiträge selbst bei einer Obergrenze von einem Prozent steigen würden. Die EU-Kommission schlägt dagegen eine Erhöhung auf gut 1,1 Prozent vor. Das Europaparlament, das am Ende zustimmen muss, fordert gar 1,3 Prozent.

Neben dem Volumen ist auch umstritten, wohin das Geld fließt. Der Vorschlag der Kommission senkt den Anteil, der für Agrarsubventionen verwendet wird. Im Gegenzug sollen mehr Mittel für Forschung oder den Grenzschutz zur Verfügung stehen. Vielen Regierungen gehen die Kürzungen bei den Bauern jedoch zu weit, weswegen die Finnen diesen Anteil wieder leicht hochsetzten. Stärker gekappt wurden dafür die Hilfen für arme Regionen. Das missfällt wiederum jenen Staaten, die von dieser Unterstützung profitieren.

Die Debatten auf dem Gipfel könnten in Abwesenheit zweier Regierungschefs geführt werden: In Brüssel zweifelt man, ob der Sozialdemokrat Joseph Muscat aus Malta Lust hat, sich zu den Umständen des Mordes an der Investigativjournalistin Daphne Caruana Galizia befragen zu lassen - und Boris Johnson will wiedergewählt werden, um den Brexit zu vollziehen. EU-Diplomaten betonen, dass die parallel zum Gipfel stattfindende Wahl in Großbritannien nicht zu viel Aufmerksamkeit erhalten wird: "Wir werden nicht die Auszählung einzelner Wahlkreise mitverfolgen."

Über den Brexit wird der Tagesordnung zufolge erst am Freitagmittag gesprochen - in der Hoffnung, dass es dann einerseits ein Ergebnis gibt und dieses andererseits etwas Klarheit schafft. Fest steht aber bereits, wer Großbritannien vertreten wird: Johnson hat Charles Michel gebeten, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen. Dies berichtete der EU-Ratspräsident, als er am Mittwochmittag überraschend vor Reportern auftrat. Beim Brexit sei die EU-27 verpflichtet, "die Einheit zu wahren und die nächsten Schritte zu gehen", sagte Michel. Eine "enge Kooperation" mit Großbritannien sei wichtig für die EU.

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SZ vom 12.12.2019/jael
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