EU-Gipfel in Brüssel:Gesprächstherapie für Regierungschefs

EU Gipfel Merkel Krise Barroso

Jose Manuel Barroso berichtet den Staats- und Regierungschefs über die Lage der EU

(Foto: dpa)

Dramatisch werden die Zahlen sein, die EU-Kommissionspräsident Barroso den 27 Staats- und Regierungschefs vorlegen wird. Er will Druck auf jene Mitglieder ausüben, die sich beim Kampf gegen die Schuldenkrise zu viel Zeit lassen.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Es bedarf ein wenig Phantasie, sich die kommende Brüsseler Gipfelnacht vorzustellen. Auf dem Plan steht das, was Psychologen gemeinhin Gesprächstherapie nennen. Am Donnerstagabend dieser Woche werden 27 Staats- und Regierungschefs am Oval im Ratsgebäude sitzen und sich anhören, was EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso über die Lage in Europa zu sagen hat.

Die "action-teams", die Barroso hat gründen lassen, um Jugendlichen in Spanien, Griechenland, Irland und fünf weiteren Länder in Jobs und Ausbildung zu verhelfen, werden zu den besseren Nachrichten gehören. Aber keiner der Kollegen wird dann wohl in der Haut von David Cameron stecken wollen, wenn Großbritanniens Premierminister am Tisch zu hören bekommt, dass die Neuverschuldung seines Landes 2013 höher sein wird als die von Spanien oder Irland - und das erklären soll. Alle Augen werden sich auch auf François Hollande richten, wenn der französische Staatspräsident einräumen muss, sein Defizitziel 2013 nicht halten zu können.

Jeder Achte Erwerbsfähige arbeitslos

Es ist ein ungewöhnliches Szenario. Mehrere Stunden sind dafür vorgesehen, dass die Chefs miteinander und übereinander reden. Geplant haben diese Gesprächstherapie die Organisatoren rund um EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, den obersten Sitzungsleiter der Gipfel. Über die offene Debatte wollen sie die Chefs zwingen, sich zu verpflichten, lange schon zugesagte Reformen auf den Weg zu bringen.

"Die meisten am Tisch wissen genau, was sie zu tun haben, aber es passiert kaum etwas", heißt es im Team der Organisatoren. Durch die Gesprächstherapie soll der Druck steigen, endlich zu handeln. "Wenn Hollande in einer Debatte unter europäischen Regierungschefs zwei-, dreimal zu hören bekommt, dass die Arbeitskosten in Frankreich zu hoch sind, wird er wissen, was zu tun ist", hofft man in Brüssel. In den Fluren erzählt man sich, dass Spanien schon mehr Autos verkaufen kann als Frankreich. Auch wegen der Arbeitskosten.

Neuverschuldung höher als erlaubt

Barroso hat Zahlen vorbereitet, die den dramatischen Hintergrund beschreiben. Etwa jeder achte Erwerbsfähige ist arbeitslos in Europa. Tendenz steigend. Das gilt auch für die Schulden. Laut Verträgen darf die öffentliche Gesamtverschuldung nur bei 60 Prozent des Bruttosozialproduktes liegen. Darüber redet schon niemand mehr, weil etwa im Euro-Klub außer Luxemburg, Finnland und den osteuropäischen Ländern keine Regierung auch nur in die Nähe dieser Grenze kommt. Deutschland eingeschlossen.

Bei der Neuverschuldung sieht es nicht viel besser aus: Neun der 17 Euro-Länder werden sich 2013 höher verschulden als erlaubt, von den 27 Ländern ist es knapp die Hälfte. Richtig deutlich wird die desolate Lage anhand der Wachstumszahlen: Die liegen quer durch Europa nahe null. "Es kann und muss mehr getan werden", fordert Van Rompuy in seinem Einladungsbrief an die 27 Chefs. Die Lage sei "prekär bis fragil", heißt es in seinem Umfeld.

120-Milliarden-Euro-Wachstums-Paket

Zur Kleinteiligkeit der nächtlichen Diskussion dürfte beitragen, dass Van Rompuy in seinem Schreiben zahlreiche Vorhaben aufzählt, die explizit eingeleitet wurden, um die Krise zu bekämpfen - und doch stecken geblieben sind. Beispielsweise eine spezielle Zahlungsrichtlinie, die kleinen und mittleren Unternehmen helfen sollte, säumige Zahler zügig zur Kasse zu bitten.

Gerade der Mittelstand ist auf die Zahlungen angewiesen, um selbst Löhne zu zahlen oder zu investieren. Die meisten Länder hätten diese Richtlinie noch immer nicht umgesetzt, mahnt Van Rompuy. Details nennt er nicht. Aber es ist klar, dass die Botschaft vor allem an Italien gerichtet ist. Die Regierung in Rom schuldet heimischen Unternehmen mehr als acht Milliarden Euro. Viele von ihnen sind nahe der Pleite oder schon in Konkurs gegangen. Es ist ein Beispiel, das zeigt, wie weit Versprechen und Realität auseinanderliegen.

Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit

Dafür steht auch das 120-Milliarden-Euro-Wachstums-Paket; entworfen Anfang 2012 für den Wahlkampf des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, durchgesetzt im Mai von Wahlgewinner François Hollande. Rund 82 Milliarden Euro davon sollten aus den europäischen Fonds umverteilt werden, einzig mit dem Ziel, Jobs zu schaffen und Unternehmen zu fördern.

Ein Jahr später ist unklar, was daraus geworden ist. Der zuständige EU-Kommissar findet keine Zeit, die Sache zu erklären. Kommissionschef Barroso hat sich zumindest Zahlen über die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zusammenstellen lassen.

Sie machen erneut das Dilemma deutlich: Es fehlt nicht am Geld, es fehlt an Ideen und Projekten. Rund 30 Milliarden Euro können bis Ende 2013 ausgegeben werden, um jungen Menschen in den acht am stärksten betroffenen Ländern Griechenland, Spanien, Irland, Italien, Litauen, Lettland, Portugal und der Slowakei zu helfen. Doch Anfang des Jahres waren erst 16 Milliarden Euro Projekten zugeordnet, an denen 780 000 Jugendliche vor allem aus Griechenland, Italien und Spanien teilnehmen. In Barrosos Unterlagen findet sich auch kein Verweis auf konkrete Vorhaben, sondern der Vermerk, dass es sich um Schätzungen und Erwartungen handelt.

Hilfsprogramm für Zypern?

Irgendwann am späten Abend, wenn alle 27 Chefs geredet haben, sollen die Nicht-Euro-Regierungschefs aus dem Saal geschickt werden. Für die 17 Mitglieder des Euro-Klubs steht der nächste Vortrag an - Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), wird zur Lage im Euro-Klub referieren.

Es ist eine Konstellation, die Erinnerungen an den Mai 2010 weckt, als der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet alarmierende Zahlen über die drohende Pleite Griechenlands und die Ansteckungsgefahr für den Euro-Klub an die Wand warf. Zwei Tage später gab es den Euro-Rettungsfonds EFSF. Draghis Auftritt wird kaum derartig weitreichende Folgen haben. Aber Draghi könnte dafür sorgen, dass sich die Euro-Länder endlich dazu durchringen, ein mit Griechenland eng verknüpftes Problem zu lösen - und sich auf ein Hilfsprogramm für Zypern zu einigen.

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