EU-Gipfel:Selenskij stößt auch in Brüssel auf Skepsis

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij (links) und Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, am Donnerstag in Brüssel. (Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP)

Der ukrainische Präsident erklärt beim EU-Gipfel, wie er den Krieg bis Ende 2025 beenden will. Seine Forderungen an den Westen bleiben bestehen, er stellt aber auch Gegenleistungen in Aussicht.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat den Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstag seinen sogenannten Siegesplan vorgestellt, mit dem er den Krieg in der Ukraine bis spätestens Ende nächsten Jahres beenden will. Er wolle „Frieden durch Stärke“ erreichen, sagte Selenskij beim EU-Gipfeltreffen in Brüssel. Unter anderem verlangte er, dass westliche Waffenlieferanten ihre Einsatzbeschränkungen aufheben und der Ukraine erlauben, auch tief in Russland liegende Ziele anzugreifen. Zudem beinhaltet Selenskijs Plan die Forderung, dass die Ukraine bereits jetzt eine verbindliche und bedingungslose Einladung bekommen solle, der Nato beizutreten.

Es sei entscheidend, den „Krieg zurück nach Russland zu tragen“, um auch die russische Bevölkerung aufzurütteln, heißt es in einer schriftlichen Ausarbeitung des Siegesplans, die am Donnerstag in Brüssel kursierte und der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Ebenso sei es wichtig, Russlands geostrategisches Ziel in dem Krieg – die Ukraine in ihrer Einflusszone zu halten – durch eine Beitrittseinladung der Nato zu blockieren. Nur dann werde Russland bereit zu echten Friedensverhandlungen sein, heißt es in dem Plan.

Die Furcht vor einer Eskalation bleibt bestehen

Beide von Selenskij vorgebrachten Forderungen stoßen bisher in Europa, aber auch bei der amerikanischen Regierung unter Präsident Joe Biden auf große Skepsis. Die USA, Großbritannien und Frankreich, welche der Ukraine weitreichende Marschflugkörper geliefert haben, verbieten derzeit, dass diese zum Beispiel auf Militärflugplätze oder Waffen- und Logistikdepots im russischen Hinterland abgefeuert werden – aus Sorge, dass sich daraus eine direkte militärische Konfrontation zwischen Nato-Staaten und Russland entwickeln könnte. Aus Furcht vor einer derartigen Eskalation verweigert der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz seit Monaten die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine.

Auch Selenskijs Wunsch nach einer sofortigen Einladung in die Nato trifft auf Widerstand. Zwar räumt auch der ukrainische Präsident ein, dass der tatsächliche Beitritt des Landes zur Allianz erst nach dem Ende des Krieges stattfinden könne. Doch sehr viele Nato-Staaten schrecken bereits vor dem Begriff „Einladung“ zurück, solange in der Ukraine noch gekämpft wird. Sie sind nicht bereit, der Ukraine mehr zu geben als die Formulierung, auf die das Bündnis sich in diesem Sommer geeinigt hatte. Danach verspricht die Allianz, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden wird und sich auf einem „unumkehrbaren“ Weg in das Bündnis befindet. Ein festes Beitrittsdatum wird aber nicht genannt.

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Diplomaten erwarten zwar, dass die Ukraine und europäische Unterstützer wie Polen und die baltischen Staaten in der Nato weiter Druck machen werden. Im nächsten Sommer ist ein Nato-Gipfeltreffen in Den Haag geplant, davor werde die Debatte über eine Beitrittseinladung an die Ukraine wohl wieder stärker werden, heißt es bei der Allianz. Doch die Chancen, dass die Befürworter sich durchsetzen, werden als gering eingestuft – die Nato entscheidet stets im Konsens, ein Abweichlerstaat reicht, um eine Entscheidung zu blockieren. „Ich würde keine Flasche Wein darauf verwettet, dass die Ukraine eine Einladung erhält“, sagt ein Diplomat in Brüssel.

Bundeskanzler Scholz jedenfalls zeigte am Donnerstag keine Bereitschaft, auf die zentralen Forderungen von Selenskijs Plan einzugehen, weder was die Nato-Mitgliedschaft anging noch die Taurus-Marschflugkörper. „Sie kennen die Haltung Deutschlands in den Fragen, die da berührt sind. Daran wird sich auch nichts ändern“, sagte Scholz bei seiner Ankunft in Brüssel. Der belgische Regierungschef Alexander De Croo sagte, es sei „natürlich schwierig“, den Beitritt der Ukraine zur Nato umzusetzen, „während sich das Land im Krieg befindet“.

Womöglich war diese Ablehnung ein Grund, warum Selenskij in seiner Pressekonferenz nach dem Treffen mit den Staats- und Regierungschefs ein Reizwort fallen ließ, das garantiert Aufmerksamkeit erregt: „Atomwaffen“. Der ukrainische Präsident erinnerte daran, dass die Ukraine ihre von der Sowjetunion geerbten Nuklearwaffen 1994 unter dem sogenannten Budapester Memorandum abgegeben habe. Dafür habe Russland damals die Grenzen des Landes anerkannt. Da Moskau sich nicht mehr an diese Zusage halte, blieben Kiew eigentlich nur zwei Möglichkeiten übrig, so Selenskij. „Welchen Ausweg haben wir?“, fragte er. „Entweder wird die Ukraine Atomwaffen haben, oder wir müssen in irgendeiner Allianz sein.“ Und die einzige Allianz, die ihre Mitglieder wirksam schützen könne, sei die Nato.

Dass sein Gerede über eine nukleare Wiederbewaffnung bei den europäischen Kolleginnen und Kollegen auf viel Verständnis – oder gar Zustimmung – stößt, kann Selenskij nicht ernsthaft erwarten. Tatsächlich ruderte er schon ein paar Stunden später wieder zurück. In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte, dem Selenskij in Brüssel ebenfalls einen Besuch abstattete, bestritt er, dass er Atomwaffen wolle. Er habe sich da wohl problematisch ausgedrückt, räumte er ein.

Ohnehin musste der ukrainische Präsident bei seinem Besuch in Brüssel merklich um die Aufmerksamkeit der europäischen Kolleginnen und Kollegen ringen. Das Hauptthema bei dem EU-Gipfeltreffen, das derzeit fast alle europäischen Staats- und Regierungschefs umtreibt, war Migration – nicht der Krieg in der Ukraine, obwohl die russischen Angreifer dort auf dem Vormarsch sind, große Teile der Energie-Infrastruktur zerstört sind und dem Land – in den Worten Selenskijs – ein harter und „gefährlicher Winter“ droht. Der ukrainische Präsident warnte sogar davor, dass Nordkorea 10 000 Soldaten nach Russland geschickt habe, die in der Ukraine eingesetzt werden sollten.

Allerdings scheint auch Selenskij sehr gut zu wissen, dass das Schicksal seines Landes mehr von den USA als den Europäern abhängt. Zwei Passagen in dem Siegesplan lesen sich jedenfalls so, als wolle der Ukrainer sich bereits auf einen möglichen Sieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump vorbereiten und suche nach Argumenten, um diesen zu einer weiteren Unterstützung des Landes überreden zu können.

So stellt Selenskij den USA und Europa als Gegenleistung für deren Hilfe in Aussicht, Zugang zu den wichtigen Bodenschätzen und Rohstoffen zu bekommen, die es in der Ukraine gibt. Zudem könnten modern ausgerüstete und kampferprobte ukrainische Einheiten in anderen europäischen Ländern stationiert werden und dort amerikanische Kontingente ersetzen, heißt es in dem Plan. Beide Vorschläge dürften für den stets transaktional denkenden Trump attraktiv sein. Trump wollte schon während seiner ersten Amtszeit als Präsident die US-Truppen aus Europa heimholen. Zudem hat er sich damals immer wieder darüber beklagt, dass die USA sich nach der Invasion im Irak nicht das dortige Erdöl gesichert hätten. Selenskijs Vorschläge passen daher recht gut in das Weltbild von Donald Trump.

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