Süddeutsche Zeitung

EU-Flüchtlingspolitik:Fisch, Fleisch, Tofu

Das Urteil des EU-Gerichtshofs zur Flüchtlingspolitik kann jeder lesen wie er will: Es gibt irgendwie Merkel recht, ihren Kritikern aber auch. Das Urteil ist verzagt und uninspiriert. Es wird den Realitäten nicht gerecht.

Von Heribert Prantl

Nein, Justitia ist nicht blind; aber ein wenig feige ist sie manchmal - sie ist furchtsam, verzagt, schüchtern, hasenherzig. Das gilt in besonderer Weise für das Urteil des EU-Gerichtshofs zu den Grundsätzen des europäischen Asylrechts; es hat schon mutigere Urteile aus Luxemburg gegeben.

Dieses Urteil ist nicht Fisch noch Fleisch; es ist eine Art Tofu, das sich jeder so würzen kann, wie er will. Aus diesem Urteil kann man ein Lob für Merkel herauslesen, weil sie sich im Spätsommer 2015 solidarisch gezeigt und Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen hat. Man kann auf dieses Urteil aber auch eine massive Kritik an Merkel stützen, weil sie die 08/15-Zuständigkeitsregeln der EU nicht angewendet hat. Das Gericht hat die Gültigkeit dieser sogenannten Dublin-Regeln bestätigt - auch in Zeiten von Massenfluchtbewegungen.

Ein Urteil, das jedem irgendwie recht gibt, kann nicht Recht sein. Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die keiner kann, auch nicht der Europäische Gerichtshof. Die Europarichter haben sich vor einer historischen Aufgabe gedrückt: der Politik zu sagen, dass man mit bloßen Zuständigkeitsregeln das Flüchtlingsproblem nicht lösen kann - schon gar nicht mit Zuständigkeitsregeln, die die Lasten der Asylverfahren und des Flüchtlingsschutzes tunlichst auf die Staaten an den Außengrenzen der EU abwälzt.

Solidarität ist freiwillig, Stupidität Trumpf: Ist das Recht?

Die Dublin-Zuständigkeitsregeln bedeuten bekanntlich: Zuständig für die Asylprüfung und die Gewährung von Schutz ist der Staat, in dem ein Flüchtling zuerst ankommt. Das ist immer der Staat an der Außengrenze. Die Richter scherten sich nicht sehr viel darum, was dort dann geschieht; sie scherten sich wenig darum, dass kleine EU-Grenzländer Hunderttausende von Flüchtlingsverfahren unmöglich alleine bewältigen können. Die Richter erklärten nur: Die anderen Staaten, die nach den Dublin-Regeln fein heraus sind, weil sie von einem Kranz anderer EU-Staaten umgeben sind (Deutschland zumal), dürfen ja, wenn sie mögen, den überlasteten Staaten freiwillig helfen. Anders gesagt: Solidarität ist freiwillig. Stupidität ist Trumpf.

Das Urteil des europäischen Gerichts ist ein Ausdruck von richterlichem Eskapismus: Es flieht vor der Wirklichkeit und wird den realen Anforderungen der Flüchtlingspolitik nicht gerecht. Die Richter spüren das und preisen deshalb die Freiwilligkeit und den Geist der Solidarität in der Flüchtlingspolitik. Aber ein Recht, das das Richtige zur freiwilligen Sache macht, ist ein seltsames Recht. Soll es wirklich Recht sein und bleiben, dass die Schwachen die schwere Last und die Starken die leichte Last zu tragen haben?

Von den Dakota-Indianern stammt der Spruch: Wenn du ein totes Pferd reitest, steig ab! Das tote Pferd ist die Dublin-Verordnung. Die Richter steigen aber nicht ab, sie rufen stattdessen: "Weiter so, weiterreiten." Sie tun so, als könne man mit der Dublin-Verordnung noch vorankommen. Fast jeder weiß, dass das nicht stimmt. Man kann die Indianer-Weisheit wie folgt in die Gegenwart übersetzen: Die Dublin-Verordnung ist so etwas wie der unzulängliche Dieselmotor der Flüchtlingspolitik, nur noch schlimmer. Die Richter lassen ihn weiterstinken.

Die Richter wissen sehr wohl, dass Griechenland und Kroatien und Bulgarien die Lasten, die die Dublin-Verordnung ihnen aufbürdet, nicht bewältigen können - auch ein so großes Land wie Italien kann das nicht. Die Richter wissen sehr wohl, wie es in einem Teil dieser Länder zugeht. Sie wissen, dass es in Griechenland, in Bulgarien, in Ungarn keinen Asylschutz gibt, der diesen Namen verdient. Deshalb sagen die Richter, dass man Flüchtlinge, die über diese Staaten nach Österreich oder Deutschland gekommen sind, nicht dorthin zurückschicken darf - wenn und weil sie dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten haben; oder weil schlicht kein System vorhanden ist, das ihnen Schutz und Hilfe geben könnte. Aber die Richter scheuen sich, aus diesen Erkenntnissen die Folgerungen für die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa zu ziehen.

Das auf den Dublin-Zuständigkeitsregeln aufbauende europäische Asylrecht ist ein System der Unverantwortlichkeit. Die Europarichter haben es versäumt, diesem System ein Ende zu setzen. Sie haben es versäumt, dieses System wenigstens deutlich zu kritisieren und neue, praktikablere und gerechtere Regeln vorzuschlagen. Sie haben es versäumt, Perspektiven für eine neue Flüchtlingspolitik aufzuzeigen. Die Richter hätten den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik in Europa legen können. Sie haben es nicht getan. Sie überlassen die Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge ihrem Schicksal.

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SZ vom 27.07.2017
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