Süddeutsche Zeitung

EU-Flüchtlingspolitik:"Der Erfolg? Immerhin ertrinken weniger Menschen"

Gerald Knaus gilt als Ideengeber für den europäischen Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Im Gegensatz zu Ankara würde die EU ihren Teil der Arbeit aber nicht erfüllen, kritisiert der Österreicher. Die Flüchtlingskrise könnte daher bald neu aufbrechen.

Interview von Stefan Braun, Berlin

Der 47-jährige Gerald Knaus leitet das Berliner Forschungsinstitut "Europäische Stabilitätsinitiative". Er hat im Winter 2015 zentrale Ideen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals mitentwickelt und über die niederländische Regierung in den EU-Verhandlungsprozess eingespeist. Zuvor lehrte der Österreicher an verschiedenen Universitäten und arbeitete bei EU- und UN-Institutionen.

Der leidenschaftliche Europäer sieht insbesondere die Arbeit der EU seit Ausbruch der Flüchtlingskrise kritisch und verzweifelt am Widerspruch zwischen den hehren Ideen und Ankündigungen und der mangelhaften Umsetzung durch Brüssel.

SZ: Das EU-Türkei-Abkommen ist jetzt zwei Jahre alt. Ist das Ganze ein Erfolg? Ein Misserfolg? Irgendwas dazwischen?

Gerald Knaus: Die wichtigste Frage heute wie im März 2016 ist doch: Hat irgendjemand ein besseres Konzept? Die Antwort lautete damals wie heute: nein. Immerhin ertrinken weniger Menschen: Im Winter 2016, in den Wochen vor dem Abkommen, starben in der Ägäis mehr als 360 Menschen. Heuer sind es erst 16. Das sind 16 Menschen zu viel. Trotzdem sind in den letzten zwei Jahren deutlich weniger ertrunken. Die EU hilft überdies seit März 2016 mehr als einer Million syrischer Flüchtlinge in der Türkei finanziell. Das ist in deren Interesse, es ist im Interesse der EU und im Interesse der Türkei. Trotzdem braucht die EU dringend eine effiziente und menschliche Politik für ihre Außengrenzen. Eine seriöse Umsetzung des Abkommens mit der Türkei wäre ein Schritt in diese Richtung. Doch davon kann bislang keine Rede sein.

Warum nicht?

Das Abkommen wurde bislang in der Türkei umgesetzt, in der EU nicht. Die EU und Griechenland haben es bislang nicht geschafft, die wichtigsten Fragen zu klären: Wie gelingt es, glaubwürdige Asylverfahren innerhalb von wenigen Wochen abzuschließen? Wie gelingt es, jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, in die Türkei zurückzuschicken? Und wie kann man sicherstellen, dass Asylsuchende in Griechenland während ihrer Verfahren unter menschenwürdigen Bedingungen untergebracht sind? Auf alle diese Fragen kann man eine Antwort finden. Doch das ist bislang nicht geschehen. Damit droht das gesamte Abkommen zu scheitern, vielleicht schon in den nächsten Monaten, wenn wieder mehr Menschen über die Ägäis kommen.

Sie gehören zu den Mit-Architekten des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Im Sommer und Herbst 2015 trieb uns die Frage um, warum in der Ägäis so viele Menschen ertranken. Damals waren es in einem Monat 160 Menschen. Wir wollten das nicht akzeptieren. Daraus entstand ein Bericht unter dem Titel: "Warum niemand in der Ägäis ertrinken muss." Warum sollten Hunderttausende Syrer erst in kleinen Booten ihr Leben riskieren, um kurz darauf in München oder Stockholm mit offenen Armen aufgenommen zu werden?

Welche Lösung strebten Sie an?

Wir schlugen vor, eine hohe Zahl von Syrern mit dem Flugzeug aus der Türkei zu holen - und umgekehrt die Türkei davon zu überzeugen, ihr bereits bestehendes Rückübernahmeabkommen mit Griechenland ab einem Stichtag tatsächlich umzusetzen. Also alle Zurückgesendeten auch aufzunehmen. Wir wollten, dass europäische Länder so viele Flüchtlinge aus Syrien offiziell aufnehmen würden wie politisch möglich - und umgekehrt die meisten, die via Boot kommen wollen, begreifen, dass sie auf diesem Weg keine Chance haben.

Die Bundesregierung lobt das Abkommen, weil es die Flucht über die Ägäis beendet habe. Wie ist die Lage wirklich?

2017 kamen 30 000 Menschen per Boot nach Griechenland. Das sind halb so viele wie allein im Februar 2016. Trotzdem sollte man nicht von einem Erfolg sprechen. Viel zu viele riskieren weiter ihr Leben, und die Zahl wächst seit letztem Sommer. Es ist darüber hinaus auch kein Erfolg, dass die EU seit Abschluss des Abkommens gerade 12 000 Syrer aus der Türkei mit dem Flugzeug geholt hat. Wenn das Abkommen wirklich umgesetzt würde, würden viel weniger Menschen in Boote steigen und viel mehr in Flugzeuge. Der Krieg in Syrien geht weiter, die Türkei ist weiter weltweit das Land mit den meisten Flüchtlingen. Trotzdem handelt die EU erneut so als könne sie der syrischen Katastrophe den Rücken zukehren. Das ist illusorisch.

Wie kann es passieren, dass Wahrnehmung und Wirklichkeit so auseinanderklaffen?

Niemand schaut genau hin, was wirklich passiert. Nehmen wir einen der umstrittensten Aspekte des Abkommens: Die Rückführungen in die Türkei. Vor zwei Jahren haben manche Menschenrechtsorganisationen vor Massenabschiebungen in die Türkei gewarnt, sie hatten die ehrliche Angst, dass man nun Menschen ohne jede Prüfung in die Gefahr zurückschicken würde, wie es etwa Italien unter Berlusconi mit Libyen 2009 gemacht hat. Der europäische Menschenrechtsgerichtshof hat das damals zu Recht als Bruch mit der Menschenrechtskonvention verurteilt. Das Abkommen sagt klar, dass jeder, der in Griechenland einen Asylantrag stellt, ein individuelles Verfahren bekommen muss. Man darf nur Leute in die Türkei zurückschicken, die dort sicher sind.

Wie ist die Lage in Griechenland?

Noch immer dauern die Asylverfahren viel zu lange. Das bedeutet: Tausende Flüchtlinge sitzen oft einige Monate auf den Inseln fest, und danach sitzen sie noch länger auf dem Festland. Die Bedingungen sind eine Schande für die ganze EU, die Lager schlecht geführt und hoffnungslos überfüllt. Schlussendlich reisen die meisten mit Schleppern doch weiter über die Balkanroute in Richtung Deutschland.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz lobt sich aber für die Schließung der Balkanroute. Hat er damit recht? Ist die Route dicht?

Nein. In den ersten zehn Wochen dieses Jahres gab es 29 000 neue Asylanträge in Deutschland, 2017 waren es mehr als 200 000, und mehr als die Hälfte davon waren Menschen, die über die Türkei Europa erreichten. Wer es nach Griechenland schafft, der kommt irgendwann auch in Deutschland an. Wenn dieses Jahr mehr Leute in Griechenland ankommen, werden auch mehr Leute nach Deutschland kommen.

Was müsste geschehen?

In den ersten sechs Monaten 2017 kamen jeden Monat im Durchschnitt 1500 mit dem Boot in Griechenland an. Nehmen wir an, 1000 von ihnen wären - nach einem fairen Verfahren und mit überprüfbaren Garantien zu ihrer Zukunft in der Türkei - jeden Monat zurückgeschickt worden. Und nehmen wir an, die EU hätte dafür jeden Monat 5 000 Flüchtlinge aus der Türkei umgesiedelt. Der Zustrom wäre eingebrochen und es wären noch weniger ertrunken.

Warum klappt die Abschiebung nicht so, wie es einst geplant war?

Brüssel hat es bis heute nicht geschafft, jenseits schöner Überschriften ein klares Konzept zu erstellen, was an Helfern, an Geld und an Technik wirklich notwendig ist, um den Griechen umfassend zu helfen. Obwohl offensichtlich ist, was notwendig wäre: ein Konzept, wie man die Bedingungen auf den Inseln verbessern und Berufungsverfahren beschleunigen könnte, um jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, in die Türkei zurückzuschicken. Davon muss man die Bürgermeister auf den Inseln, die griechischen Asylbeamten und Richter, die Politiker und letztlich auch die Bevölkerung überzeugen. Die EU hat dafür zwei Jahre nach März 2016 noch immer kein Konzept. Das ist fahrlässig.

Das Nadelöhr heißt Griechenland. Warum ändert sich da nichts?

Wer in Griechenland einen Asylantrag stellt, bleibt für Jahre in der EU, selbst wenn der Antrag irgendwann abgelehnt wird. Seit März 2016 wurde keine Person, die entschlossen war, alle Instanzen des Rechtswegs auszuschöpfen, in die Türkei zurückgeschickt. Griechische Berufungskommissionen treffen nur 100 Entscheidungen im Monat auf den Inseln, und auch das nur nach vielen Monaten. In Italien ist das übrigens nicht anders. Auch dort dauern Verfahren Jahre.

Beamte aus anderen EU-Staaten, die auf den griechischen Inseln als Unterstützer eingesetzt sind, berichten, dass ihre Beschlüsse durch griechische Asylbeamte oft korrigiert werden. Wie kann das sein?

Im Rahmen des European Asylum Support Offices (EASO) wurden seit 2016 Hunderte von Beamten anderer europäischer Asylbehörden zur Unterstützung nach Griechenland geschickt. Es ist erstaunlich, wie wenig über die Probleme dieser wichtigsten Mission bekannt ist. Tatsächlich ist diese bislang vollkommen gescheitert. Die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Griechen vor Ort funktioniert kaum. Trotzdem findet man in offiziellen EU Berichten davon so gut wie nichts. Wir brauchen dringend eine unabhängige Untersuchung, um zu sehen, was verbessert werden muss.

Die Beamten anderer Staaten halten viele Geflüchtete nicht für schutzbedürftig, griechische Grenzbeamte aber schon?

Viele, die aus europäischen Asylbehörden auf den Inseln arbeiten, entscheiden in Einzelfällen, dass es möglich ist, jemanden in die Türkei zurückzuschicken. Die griechische Asylbehörde hebt dann automatisch die große Mehrheit dieser Entscheidungen wieder auf. Gleichzeitig gibt es keine Klärung der Kriterien. So arbeiten Hunderte Beamte aus verschiedenen EU Ländern, ohne genau zu wissen, was der Sinn ihrer Arbeit ist. Wenn jeder, der die Inseln erreicht, ohnehin in Griechenland bleibt, brauchen wir keine Asylbeamten dort. Später werden dann die meisten Asylanträge von der griechischen Asylbehörde auf dem Festland abgelehnt.

Das klingt wie die absurde Umkehrung aller offiziellen EU-Ziele?

Derzeit nimmt niemand diese Ziele ernst genug. Man erklärt in Paris oder Berlin zwar, dass jenen, die schutzbedürftig wären, Asyl gewährt werden müsse, und dass jene, die keinen Schutz nach der Flüchtlingskonvention brauchen, abgeschoben werden müssten. Das klingt gut. Aber die griechische Asylbehörde hat im letzten Jahr 12 000 Asylanträge abgelehnt. Dennoch gibt es heute weniger Abschiebungen als vor dem Abkommen. Stattdessen erfolgt Abschreckung durch katastrophale Zustände in den Aufnahmelagern auf den Inseln, die allen europäischen Standards für die Behandlung von Asylwerbern widersprechen.

Welche Verantwortung tragen die EU und die Mitgliedstaaten?

Die meisten Mitgliedsländer denken, die Flüchtlingskrise ist gelöst. Die Asylreformdebatte in Brüssel ist weltfremd. Glaubt irgendjemand ernsthaft, die Probleme wären durch eine Umverteilung von Asylantragstellern aus Griechenland zu lösen? Jene 12 000, die 2017 dort abgelehnt wurden: Was würde es bringen, diese zuerst nach Riga oder Warschau zu bringen, um die Anträge dann dort abzulehnen? Trotzdem ist das bis heute der Kern der Ideen der Kommission und des EU Parlaments. Aus dem Scheitern des Dublin-Systems und dem Scheitern der Umverteilung von Flüchtlingen in den letzten Jahren hat man in Brüssel nichts gelernt. Die EU hat in Griechenland versagt.

Welche Verantwortung trägt Griechenland selbst?

Die Verantwortung Athens wäre es, dem Rest der EU einen Plan vorzulegen, wie man gemeinsam das EU-Türkei Abkommen tatsächlich umsetzen kann. Es ist offensichtlich, was fehlt: Berufungskommissionen, eine Koordination zwischen Griechen und EASO-Beamten, bessere Aufnahmezentren. Man könnte eine unabhängige Ombudsperson für das Abkommen einrichten. Die EU braucht einen Tsipras-Plan.

Das Abkommen funktioniert nicht gut. Infrage gestellt wird es aber auch aus einem anderen Grund: Weil viele Erdoğan und seine autokratische Führung als Partner ablehnen. Haben die nicht am Ende Recht - siehe die inhaftierten Journalisten oder der türkische Einmarsch nach Syrien?

Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens bis heute eingehalten, weil es in ihrem Interesse ist. So gesehen haben sich die Befürchtungen nicht bestätigt, Erdoğan würde das Abkommen alsbald torpedieren. Es ist auch nicht so, dass beispielsweise Deutschland, das ein Interesse am Flüchtlingsabkommen hat, die Türkei deswegen weniger für Menschenrechtsverletzungen kritisiert. In der EU gibt es kein Land, das sich diesbezüglich kritischer gegenüber der Türkei äußert. Kein EU-Botschafter wurde so oft in Ankara vorgeladen wie der deutsche.

Gibt es für Sie einen Punkt, an dem Sie trotzdem sagen würden: Mit der Türkei kann man das nicht mehr machen?

Was würde dann geschehen, ganz konkret? Würde das Geld für Syrer in der Türkei gestoppt? Wohl kaum. Würden die Umsiedlungen von Syrern aus der Türkei gestoppt? Gerade Kritiker des Abkommens würden das nicht wollen. Und dann noch Griechenland: Würde Athen einer deutschen Aufforderung nachkommen, grundsätzlich niemanden mehr in die Türkei zurückzuschicken? Obwohl vor dem Abkommen im März 2016 mehr Menschen in die Türkei geschickt wurden als seitdem? Warum sollte Athen dem zustimmen? Heute halten alle Regierungen in der EU und alle großen Parteien in Griechenland am Abkommen fest. Für jene, denen es um den Schutz von Menschenrechten geht, kann es nur darum gehen, das Abkommen endlich ehrlich umzusetzen. Eine Alternative dazu hat in zwei Jahren niemand präsentiert.

Was wäre ein Fazit aus zwei Jahren Türkei-EU-Abkommen?

Es hat für mich gezeigt, dass es möglich ist, die Zahl von Bootsflüchtlingen und Ertrinkenden zu reduzieren, ohne das Flüchtlingsrecht in Frage zu stellen. Es hat auch gezeigt, was die EU alles bislang nicht kann. 9 000 Menschen kamen in der ersten Hälfte 2017 auf die Inseln, so viele wie in Passau 2015 an einem Tag. Es gelang nicht, diese menschenwürdig unterzubringen, trotz Hunderter Millionen am Mittel. Es gelang nicht, die Asylverfahren zu beschleunigen, trotz Hunderter europäischer Beamter. Das ist es, was alle in Brüssel, in Berlin und anderswo in der EU zutiefst beunruhigen muss.

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