Eine Ebene voller Felder, Pistazien- und Olivenhaine, dazwischen Häuser und Gehöfte, zwei Gendarmen salutieren an der Weggabelung. Der EU-Botschafter aus Ankara fährt übers Land, die blaue Sternen-Flagge der Europäischen Union flattert am Kotflügel. Nikolaus Meyer-Landrut reist durch das türkisch-syrische Grenzgebiet, er fächert auf, was das in Europa so umstrittene EU-Flüchtlingsabkommen mit Ankara im Alltag für Syrer und Türken bedeutet: etwa ein modernes, von der Europäischen Gemeinschaft finanziertes Krankenhaus in der Grenzprovinz Kilis, mit 80 000 Quadratmetern Fläche und rund 400 Betten. Die Klinik soll bis Herbst fertiggestellt werden, sie steht Syrern und Türken offen. Kosten: 50 Millionen Euro.
Oder ein Flüchtlingscamp, es endet direkt an der Grenzmauer nach Syrien. 8500 Menschen leben in Elbeyli, die Menschen bekommen über ein Cash-Kartensystem knapp 15 Euro im Monat. Das reicht nicht weit, aber die Kinder gehen zur Schule, die Menschen werden medizinisch betreut, sie leben nicht auf der Straße. Zwei Teilprogramme hat die EU-Kommission gerade bis Mitte 2022 verlängert, 1,8 Millionen Flüchtlinge können damit weiter ihren Grundbedarf decken, 750 000 Kinder zum Unterricht gehen.
Das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei besteht nun seit fast fünf Jahren, es hat einen schlechten Ruf, besonders in Deutschland. Die Kritik der AfD überrascht kaum. Der Steuerzahler komme nicht nur für die Syrer in Deutschland auf, sondern auch für die in der Türkei, heißt es aus der Partei: "Die Bundesregierung darf der Verlängerung des Pakts mit Erdoğan unter keinen Umständen zustimmen." Aber auch Grüne, Linke, Nothelfer und Menschenrechtler sind unzufrieden. Nachdem der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan das Abkommen im März 2020 brach und kurz die Grenze nach Griechenland öffnete, erklärte Grünen-Chefin Annalena Baerbock den Pakt für "gescheitert". Und Sevim Dağdelen von der Linken wetterte, die EU habe aus ihren Fehlern nicht gelernt, wenn sie eine Neuauflage des Deals in Aussicht stelle: "Erdoğans Erpressungspolitik ist damit wieder einmal erfolgreich gewesen."
Oft wird der moralisch kolorierte Vorwurf erhoben, Europa kaufe sich frei vom globalen Flüchtlingsproblem. Nothelfer und Aktivisten prangern an, dass weiter Menschen im Mittelmeer ertrinken, dass die Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln unerträglich bleiben, dass die Flüchtlinge nun über die Malta- oder die Kanaren-Route nach Europa kommen. Aber das Abkommen erreicht ein Ziel. Der Zuzug nach Europa ist gesunken.
Botschafter Meyer-Landrut fährt zwei Tage durch die Region, besucht in der Millionenstadt Gaziantep ein Flüchtlings-Gesundheitszentrum, mehr als 170 davon gibt es in der Türkei. Der Betrieb, die syrischen Ärzte und Schwestern - alles von der EU bezahlt. Später ein Auftritt für die lokalen Medien, 40 blaulichternde Krankenwagen werden dem türkischen Gesundheitsministerium übergeben. Kameras laufen, eine Drohne filmt von oben. Natürlich geht es der EU auch um "Sichtbarkeit", um PR. Kurz vor der Übergabe der Ambulanzen wird ein Programm für Start-ups präsentiert, sowohl Syrern als Türken soll bei Firmengründungen geholfen werden. Alles finanziert von Brüssel, sechs Milliarden Euro fließen in fünf Jahren. Meyer-Landrut sagt dazu: "Auch die Türkei leistet national Enormes, auch an finanzieller Unterstützung, für die Aufnahme von 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen."
Auf der türkisch-griechischen Route kommen nun 75 Prozent weniger Menschen
Der EU-Türkei-Pakt und seine Projekte mögen bei Weitem nicht perfekt zu sein. Aber im Großen und Ganzen funktioniert zumindest der Teil, der die Türkei betrifft. Viele Syrer sind so versorgt, sie werden nicht mehr einfach Richtung Westen weitergewunken, die Flüchtlingszahlen sind auf der türkisch-griechischen Route um drei Viertel gesunken. Natürlich kann man die Ansicht vertreten, dass Europa allen Flüchtlingen offen stehen müsse - "Refugees are welcome here". Aber ist das politisch realistisch? Der Pakt funktioniert - zumeist - für Europa. Er funktioniert für die Türkei. Und er funktioniert - trotz allen Elends - für die Flüchtlinge. Wer sich im Camp Elbeyli in Kilis umsieht, erkennt schnell: Dieses Lager ist weit besser als die auf Lesbos - oder die Elendscamps im nordsyrischen Idlib. Dort leben eineinhalb Millionen Menschen, hausen in Verschlägen, auf Baustellen, in den Katakomben von Sportstadien oder in Zelten, die das Regenwasser flutet, knöcheltief.
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben Ende 2020 grundsätzlich ihre Bereitschaft signalisiert, das Abkommen mit der Türkei zu verlängern. Aber das heißt noch nicht viel. Denn eine Fortschreibung muss am Ende von allen EU-Staaten mitgetragen werden.
Als Nachbarstaat Syriens beherbergt die Türkei mehr als 3,6 Millionen staatlich anerkannter syrischer Flüchtlinge. Nur noch etwas mehr als ein Prozent von ihnen lebt noch in Lagern. Ein kleiner Teil ist nach Syrien zurückgekehrt, der überwältigende Rest hat sich über die Türkei verteilt. Zählt einer die offiziell - also mit einem internationalen Flüchtlingsstatus im Land gestrandeten - Afghanen, Iraker und Somalier dazu, steigt die Zahl noch einmal um mehr als 300 000 Menschen. Hinzu kommen zwei Millionen ohne Papiere in der Türkei, von denen keiner redet: Meist sind es Afghanen, Iraner, Pakistaner. Der Migrationsforscher Murat Erdoğan von der deutsch-türkischen Uni in Istanbul sagt: "Dieses Riesenproblem verschweigt Europa." (Siehe Interview)
Knapp sechs Millionen Menschen also - die Türkei trägt die Hauptlast der Migrationsbewegung Richtung Europa. Forscher wie Erdoğan machen sich keine Illusionen, ein großer Teil der Syrer wird das Land nie wieder verlassen. Wann der syrische Bürgerkrieg enden wird, ist offen. Bis das zerstörte Land wieder aufgebaut ist, werden lange Jahre vergehen. Die Menschen aus Damaskus, Aleppo oder Hama mögen immer noch von Deutschland oder Schweden träumen. Aber die meisten bauen ihre Existenzen längst in der Türkei auf.
Die Geduld der Einheimischen schwindet, das Klima ist teils feindselig
Gleichzeitig schwindet die Geduld der Einheimischen. Eine Studie des türkischen Umfrage-Instituts Konda verglich die jüngsten Antworten mit den Ergebnissen von 2016. Statt 70 Prozent der befragten Türken sind nur noch 40 Prozent bereit, mit den Geflüchteten in derselben Stadt zu leben. Nur noch 31 statt 57 Prozent wollen mit ihnen Schule oder Arbeitsplatz teilen. Die Zeitung Korkusuz macht da aus ihrer Haltung kein Geheimnis: "Sie dürfen sich nicht niederlassen, sie dürfen die Staatsbürgerschaft nicht bekommen." Sonst entstehe "eine neue ethnische Bevölkerungsgruppe von fast fünf Millionen Menschen".
Die Abneigung der türkischen Bevölkerung wächst. Und dass, obwohl die Syrer zu Beginn als "Brüder und Schwestern" begrüßt wurden, sich die Kulturen ähneln, die Religion dieselbe ist. In der Grenzstadt Kilis leben inzwischen mehr Syrer als Türken, zur Bevölkerung der Zwei-Millionen-Stadt Gaziantep kommen 500 000 Flüchtlinge hinzu. In Istanbul leben eine halbe Million, syrische Kinder betteln in der U-Bahn, wühlen auf der Straße nach Essbarem im Müll.
Umso gravierender dürften die Folgen sein, falls die EU den Pakt beendet und die Milliarden nicht mehr fließen sollten. Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, sie würde die Unterstützung für Flüchtlinge so kaum fortführen können. Die Probleme würden zunehmen in einer Stimmungslage, die ohnehin schon vielerorts feindselig ist. Das EU-Geld fließt nicht an Präsident Erdoğan und seine Regierung, die Milliarden werden größtenteils an Nichtregierungsorganisationen, Entwicklungsbanken und UN-Organisationen ausgezahlt, sie setzen die vereinbarten Projekte um.
So kann Brüssel sicher sein, dass das Geld ankommt, nicht nur bei Flüchtlingen übrigens. Das "EU-Einrichtungsprogramm" biete "einen Mechanismus, der sicherstellt, dass die Bedürfnisse der Flüchtlinge und der Gastgeber-Gesellschaft in der Türkei umfassend und abgestimmt befriedigt werden", heißt es im EU-Slang. Es gehe um "humanitäre Hilfe, Bildung, Migrationsmanagement, Gesundheitsversorgung, lokale Infrastruktur und sozial-ökonomische Unterstützung".
Wer Erdoğan entgegentreten möchte, der hat andere Instrumente zur Verfügung
Kurz gesagt: Es ist weit mehr als humanitäre Flüchtlingshilfe. Die Programme umfassen Bildung, Gesundheit, den Ausbau der Infrastruktur, den Zugang zum Arbeitsmarkt, sogar Ökologie - wegen der nun teils stark wachsenden Städte und deren Infrastruktur.
Und der unberechenbare türkische Präsident? Er ist alles andere als ein Sympathieträger, er würde Europa sicher wieder erpressen. Aber als Erdoğan Anfang 2020 die Grenze nach Griechenland öffnete, hatte er keinen Erfolg - die griechischen Sicherheitskräften machten dicht.
Wer Erdoğan politisch entgegentreten möchte, der hat verschiedene Instrumente zur Verfügung: Er kann auf sein Rohstoff-Abenteuer im Mittelmeer zielen, auf seine Kriege in Nahost und Libyen. Oder ihm seinen Wunsch verwehren, die mit der EU bestehende Zollunion auszuweiten oder die Visa-Freiheit für Türken zu erhalten. Wer aber den Flüchtlingspakt kündigt, würde vor allem Hunderttausende Syrer treffen, die dann ohne Schulen, Cash-Card oder Ärzte dastehen.