Wenn in Syrien alles so läuft, wie die Europäische Union sich das wünscht, wird das Land irgendwann alle Kriterien für einen Beitritt zur EU erfüllen. Territoriale Integrität, Bekämpfung des Terrorismus, Achtung von Menschenrechten, Frauenrechten, Minderheitenrechten. All das steht auf der Wunschliste, die die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel am Donnerstag verabschiedeten. Die EU will ihren Beitrag leisten, damit syrischen Flüchtlingen eine „sichere, freiwillige, würdevolle Heimkehr“ ermöglicht wird. Das sind hehre Worte, die man nicht ganz ernst nehmen muss. Viele Staaten, voran Österreich, überlegen, wie sie syrische Flüchtlinge möglichst schnell nach Syrien zurückschicken können – auch gegen deren Willen.
Der Umsturz in Syrien eröffnet der EU neue Perspektiven. Im Idealfall können viele der Menschen, die in Europa Zuflucht fanden, in ihre Heimat zurückkehren, und es bleiben jene, die sich hier bereits integriert haben. Im schlimmsten Fall stürzt Syrien ins Chaos, und es machen sich viel mehr Menschen auf den Weg nach Europa. Das ist der Grund, warum die EU jetzt emsige diplomatische Aktivitäten im Nahen Osten entfaltet.
Die Zahlen legen den Schluss nahe: Die EU-Strategie funktioniert
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste vergangene Woche in die Türkei, um mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Lage in Syrien zu besprechen. Erdoğan hat nun viel Einfluss in Syrien. Von der Leyen brachte, um Europas Anliegen Gehör zu verschaffen, eine weitere Milliarde Euro an Flüchtlingshilfe mit. Auch in Amman wurde Ursula von der Leyen vorstellig. Im Gespräch mit König Abdullah bereitete sie einen Partnerschaftsvertrag vor, der mit einigen Milliarden hinterlegt sein wird.
Der Vertrag ist ein weiterer Baustein in der EU-Strategie, Migranten von der Überfahrt übers Mittelmeer abzuhalten, indem man Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten mit viel Geld zur Hilfe verpflichtet: Tunesien, Mauretanien, Ägypten, Libanon, Jordanien, Marokko. Mögen Menschenrechtler auch vor der Zusammenarbeit mit autokratischen Regimen warnen – die nackten Zahlen legen den Schluss nahe: Die Strategie funktioniert.
Laut der EU-Flüchtlingsagentur ist die Zahl der irregulär in Europa ankommenden Flüchtlinge in den ersten elf Monaten 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gefallen, auf knapp 200 000. Das liegt vor allem am Rückgang von 60 Prozent auf der zentralen Mittelmeer-Route. Von Tunesien nach Italien gelangten 80 Prozent weniger Menschen als im Vorjahr. Das wird sich Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni als Erfolg zuschreiben. Sie hatte den Vertrag mit Tunesien eingefädelt.
Nüchtern betrachtet hat die EU in ihrer Migrationspolitik also Fortschritte gemacht. Ursula von der Leyen legte den Staats- und Regierungschefs diese Woche in einem siebenseitigen Brief dar, welche Schwerpunkte die neue Kommission verfolgt. Es geht vor allem darum, die große europäische Asylrechtsreform umzusetzen, die im April beschlossen wurde. Große Flüchtlingslager an den Außengrenzen, beschleunigte Verfahren und Abschiebungen, Einstieg in die solidarische Verteilung von Asylbewerbern – in zwei Jahren soll das System greifen. Aber trotz der Reform, in Brüssel als großer Erfolg gefeiert, haben sich die Debatten in den Mitgliedstaaten nicht beruhigt.
Eine Gruppe von Staaten, angeführt von Giorgia Meloni, drängt darauf, die EU solle mehr Rückführungen erzwingen – mit harter Hand gegenüber ausreisepflichtigen Migranten, aber auch Staaten, die sich weigern, Geflüchtete zurückzunehmen. Debattiert wird der Entzug von Wirtschaftshilfen oder Visa-Erleichterungen. Anfang des Jahres wird die Kommission einen Gesetzentwurf dazu vorlegen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat diese Woche einen Gesetzentwurf verabschieden lassen, der das Recht auf Asyl an Polens Ostgrenze massiv einschränken soll, bis hin zur kompletten Aussetzung. Begründung: Russland und Belarus würden gezielt Migranten Richtung Polen schicken, um das Land zu destabilisieren. Die Kommission hat vergangene Woche klargestellt, wann EU-Staaten aus europarechtlicher Sicht das Recht auf einen Asylantrag aussetzen können: in Extremfällen, wenn Gruppen von Migranten gezielt als „Waffe“ eingesetzt werden. EU-Staaten dürften diese Menschen an der Grenze zurückweisen, allerdings örtlich und zeitlich begrenzt, in Absprache mit der Kommission. Das hat Tusk offensichtlich nicht vor.
Die Asylreform ist darauf angelegt, Schritt für Schritt zu einer gerechten Verteilung zu kommen
Es ist der polnische Präsidentschaftswahlkampf, der Tusk bewegt, Härte in der Migrationspolitik zu zeigen. Und es ist der deutsche Bundestagswahlkampf, der die europäische Migrationspolitik gänzlich durcheinanderwirbeln könnte.
Kanzlerkandidat Friedrich Merz ließ ins Wahlprogramm von CDU und CSU schreiben, er wolle einen „faktischen Aufnahmestopp sofort“ durchsetzen. Alle Flüchtlinge, die aus der EU und dem Schengen-Raum kommen und einen Asylantrag stellen wollen, sollen zurückgewiesen werden. Jenseits rechtlicher Fragen wäre das ein Schritt von großer politischer Sprengkraft. Die europäische Asylrechtsreform ist darauf angelegt, Schritt für Schritt zu einer gerechten Verteilung der Lasten in Europa zu kommen. Die Methode Merz würde bedeuten: Es knallt in Europa.
Perspektivisch setzen CDU und CSU darauf, alle europäischen Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern, nach Afrika zum Beispiel. Damit liegen sie auf der Linie von vielen anderen europäischen Staaten. Ursula von der Leyen brachte noch im Oktober selbst Abschiebezentren in Afrika ins Gespräch. In ihrem Brief für den EU-Gipfel finden sich solche Gedankenspiele unter der Rubrik „innovative Ideen“. Tenor: kompliziert, muss weiter geprüft werden.