Europäische UnionNeue Bundesregierung steuert auf Schulden-Stolperfalle zu

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Ob die schwarz-rote Regierung unter dem künftigen Kanzler Friedrich Merz (Mitte) mit der Euro-Schuldenbremse in Konflikt gerät, hängt von mehreren Faktoren ab.
Ob die schwarz-rote Regierung unter dem künftigen Kanzler Friedrich Merz (Mitte) mit der Euro-Schuldenbremse in Konflikt gerät, hängt von mehreren Faktoren ab. (Foto: Florian Gaertner/IMAGO)

Bei der Reform der EU-Schuldenregeln hatte vor allem Berlin auf strenge Grenzwerte bestanden. Die könnten der schwarz-roten Koalition und ihren Ausgabenplänen nun im Weg stehen.

Von Jan Diesteldorf und Claus Hulverscheidt, Berlin/Brüssel

Es ist ruhig geworden um den jungen Vater Christian Lindner, so ruhig, wie man es sich noch vor Kurzem kaum hätte vorstellen können. Das politische Erbe des früheren Bundesfinanzministers allerdings wird die Republik noch lange begleiten: Denn auch wenn Union und SPD die rigiden haushaltspolitischen Vorstellungen des Ampel-Kassenwarts abgestreift und die Schuldenbremse des Grundgesetzes deutlich gelockert haben – die parallel geltende, dank Lindner gerade erst geschärfte Schuldenbremse der Europäischen Union bleibt bestehen. Sie könnte der neuen Regierung über kurz oder lang noch im Weg stehen.

Nach den Plänen der künftigen Koalitionspartner darf der Bund Verteidigungsausgaben oberhalb einer Grenze von einem Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung künftig ohne jede Beschränkung über Kredite finanzieren. Zudem wird an der nationalen Schuldenbremse vorbei ein Sondertopf im Volumen von 500 Milliarden Euro geschaffen, aus dem die dringend nötige Sanierung von Brücken, Schulen und Digitalnetzen bezahlt werden soll und der sich ebenfalls aus Darlehen speist. Zusammen ergibt sich daraus ein zusätzlicher Kreditspielraum von geschätzt einer Billion Euro für die kommenden zehn Jahre.

Wird die EU einschreiten – muss sie, will sie?

In der EU-Kommission wird man angesichts des Berliner Kurswechsels zugleich „Hurra!“ und „Vorsicht!“ rufen. Einerseits nämlich fordert Brüssel seit Jahren von Deutschland, die öffentlichen Investitionen zu steigern und aus dem konjunkturpolitischen Bremserhäuschen in die Lokomotive umzusteigen. Zugleich müsste die Kommission strikt sein und die angedachten Ausgaben aus dem Sondervermögen zumindest teilweise untersagen. Die Brüsseler Denkfabrik Bruegel kam in einer kürzlich erschienenen Studie bereits zu dem Schluss, dass sich Deutschland die versprochenen Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben nicht wird leisten können, ohne gegen die neuen Fiskalregeln zu verstoßen.

Ganz so eindeutig ist die Sache allerdings nicht. Zum einen operieren die Ökonomen in Ermangelung einer aktuellen deutschen Finanzplanung mit alten Zahlen, die zu den tatsächlichen Wachstumserwartungen und Ausgabenvorhaben der künftigen Koalition nur noch bedingt passen. Zum anderen ist die Entscheidung darüber, ob die Kommission gegen das Haushaltsgebaren eines Mitgliedslandes einschreitet, keine rein technische, sondern auch eine politische.

Das gilt besonders in einem Fall wie diesem, in dem Brüssel die wirtschafts- und verteidigungspolitischen Pläne des betroffenen Landes ausdrücklich gutheißt. Mit Blick auf die weltpolitische Lage und die zu geringen Militärausgaben vieler EU-Staaten hat die Kommission den Regierungen die Nutzung einer haushaltspolitischen Ausnahmeklausel sogar ausdrücklich nahegelegt. 16 Länder wollen das tun. Der entsprechende Antrag aus Berlin ging vergangene Woche bei der Kommission ein.

Das Zauberwort heißt „Schuldentragfähigkeit“

Die EU-Fiskalregeln sollen die Ausgaben der 27 Mitgliedstaaten im Zaum halten und die Stabilität der Euro-Zone sicherstellen. Das Zauberwort lautet dabei „Schuldentragfähigkeit“: Jedes Euro-Land soll sich dauerhaft aus eigener Kraft refinanzieren können. Als Grenzwerte verordnete sich die EU einst eine Staatsschuldenquote von höchstens 60 Prozent der Wirtschaftsleistung und ein Haushaltsdefizit von maximal drei Prozent, wobei der Fokus anders als in der Vergangenheit – und anders als bei der deutschen Schuldenbremse – mittlerweile mehr auf der Entwicklung der Schuldenquote als auf dem unterjährigen Defizit liegt.

Nicht erst die Euro-Staatsschuldenkrise in den 2010er-Jahren beschädigte die Glaubwürdigkeit der EU-Regeln schwer. Wer sie brach, wurde zwar ermahnt und erlitt wegen eines Defizitverfahrens der Kommission Reputationsschäden. Die vorgesehenen Sanktionen setzte die Behörde aber nie durch. Weil der Mechanismus also nicht recht funktionierte, verständigten sich die EU-Finanzminister Ende 2023 nach langen Verhandlungen auf eine Reform. Unterstützt von anderen finanzpolitisch konservativen Kollegen setzte vor allem Lindner der EU-Kommission dabei enge Grenzen für ihr Vorhaben, künftig flexibler mit den Haushaltsproblemen jener Länder umzugehen, die die Schuldenlimits nicht einhalten.

Dabei kam ein kompliziertes Konstrukt heraus. Länder mit einem Schuldenstand von mehr als 90 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung sollen die Quote um mindestens einen Prozentpunkt pro Jahr absenken, solche mit Verbindlichkeiten zwischen 60 und 90 Prozent um einen halben. Das sind die Leitplanken der individuellen Schuldenabbaupläne, die jedes Land nun für einen Zeitraum von vier Jahren mit der Kommission aushandeln muss. Stellt die Regierung wachstumsfördernde Reformen in Aussicht, lässt sich das auf sieben Jahre strecken.

Die Kredite von heute als Wachstum von morgen?

Im Fall der Bundesrepublik, deren Schuldenstand zuletzt bei 62,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag, greift das erste Kriterium. Obwohl Deutschland zu den wenig verschuldeten Euro-Ländern gehört und am Kapitalmarkt die geringsten Zinsen zahlt, müssten Bund, Länder und Gemeinden in den kommenden Jahren also eigentlich mehr Kredite zurückzahlen als sie an neuen aufnehmen. Da es sich bei der Kennziffer um eine Quote mit dem Schuldenstand im Zähler und dem BIP im Nenner handelt, ließe sie sich auch mit Wirtschaftswachstum senken – daran hapert es in Deutschland aber schon im dritten Jahr in Folge.

Dennoch wird die Argumentation der Bundesregierung genau an diesem Punkt ansetzen. Aus Sicht der Bundesregierung zielen die zusätzlichen Infrastrukturausgaben in Kombination mit Investitionsanreizen, Steuererleichterungen, Bürokratieabbau und weiteren Strukturreformen ja gerade darauf ab, kurzfristig die Konjunktur anzukurbeln und mittelfristig das Wachstumspotenzial zu steigern. Motto: Die Kredite von heute sind das Wachstum von morgen. Dieser Logik wird sich auch Brüssel nicht prinzipiell verschließen.

Ob die schwarz-rote Regierung mit den Fiskalregeln in Konflikt gerät, wird erstens davon abhängen, wie hoch die Wachstumsannahmen der EU-Kommission für Deutschland in der anstehenden Frühjahrsprognose ausfallen. Zweitens sind die Vorgaben für den Schuldenabbau so lange ausgesetzt, wie Deutschland die Ausweichklausel für Verteidigungsausgaben in Anspruch nimmt. Und drittens ist schließlich noch offen, in welchem Jahr eigentlich wie viel Geld zusätzlich in die Infrastruktur und die Aufrüstung fließen wird.

Der EU-Finanzexperte Lucas Guttenberg von der Bertelsmann-Stiftung geht dennoch von einem „relevanten Risiko“ aus, dass Deutschland mit seinen Schuldenplänen an die Grenzen des Regelwerks stoßen wird. „Die saubere Variante wäre deshalb eine erneute Reform“, sagt er. „Wenn man die nicht macht, ist die Glaubwürdigkeit der Regeln gleich wieder gefährdet.“ Mit einem Vorstoß für eine erneute Änderung war die alte Regierung bei ihren EU-Partnern im April noch abgeblitzt – nicht zuletzt deshalb, weil selbst schuldenfreundlichere Regierungen in Paris oder Rom die EU-Vorschriften brauchen, um daheim allzu waghalsige Ausgabenwünsche abwehren zu können. Man wäre in Brüssel allerdings nicht überrascht, wenn der künftige Kanzler Friedrich Merz (CDU) die Reformdiskussion bald erneut losträte.

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