Die Erfolgschancen sind gering, aber die Reporter müssen es probieren. Ob Jean-Claude Juncker nach der Wahl in Hessen mit Angela Merkel gesprochen habe und was der EU-Kommissionschef über den Plan der Bundeskanzlerin denke, den CDU-Vorsitz niederzulegen, fragt ein Korrespondent bei der täglichen Pressekonferenz. Man verfolge "die Entwicklungen natürlich sehr genau", sagt die Sprecherin routiniert und betont, dass sie wie üblich die "innerparteilichen Vorgänge in einem Mitgliedstaat" nicht kommentiere. Fürs Spekulieren seien andere zuständig, erwidert sie auf eine weitere Nachfrage.
Zu behaupten, dass Merkels Ankündigung in Brüssel ein Beben ausgelöst hat, wäre übertrieben. In Belgien sind Ferien und so ist im Europaviertel wenig los. Und völlig überrascht ist man in der politikbesessenen Brüsseler Blase höchstens über den konkreten Zeitpunkt, denn die Dauerkrise der großen Koalition und die erheblichen Verluste für alle drei Regierungsparteien sind niemandem verborgen geblieben. In Brüssel gilt: Die Berliner Innenpolitik muss "sehr genau" verfolgt werden, denn der Einfluss der größten Volkswirtschaft Europas ist enorm.
Weil ohne die Deutschen wenig geht, ist allen klar, dass sich hier etwas verschiebt in der Machttektonik. Nur sprechen will kaum jemand darüber. Als Devise sei "Für uns ändert sich nichts" ausgegeben worden, heißt es im Büro eines EU-Kommissars. Alle warten ab, wer künftig als CDU-Chef neben Merkel stehen und wie eng sie mit diesem Mann oder dieser Frau kooperieren wird. Dennoch spricht viel dafür, dass Merkel künftig geschwächt in Brüssel auftreten wird und sich ein Trend der vergangenen Monate verstärkt.
Jahrelang stand Merkel im für die EU so wichtigen deutsch-französischen Tandem stark und zu Hause unangefochten neben einem schwachen Präsidenten in Paris. Nachdem Emmanuel Macron François Hollande abgelöst hatte, änderte sich das etwas - vor allem wegen der schwierigen Lage in Berlin. Dass Merkel Ende Juni unbedingt eine "europäische Lösung" in der Migrationsfrage brauchte, um Horst Seehofer zu besänftigen und ihre Regierung zu retten, untergrub ihre Stellung als unbesiegbare Strippenzieherin. Wie geschwächt sie durch die innenpolitischen Turbulenzen ist, wurde Mitte September deutlich. Beim EU-Gipfel in Salzburg konnte sie nicht verhindern, dass Macron, der Merkels Rückzugsankündigung nun "äußerst würdevoll nannte, und Ratspräsident Donald Tusk die britische Premierministerin Theresa May wegen ihrer Brexit-Position öffentlich attackierten.
Der für den 29. März 2019 vorgesehene EU-Austritt Großbritanniens dominiert die Agenda in Brüssel. Weil das Geschick von Chefunterhändler Michel Barnier entscheidend ist, dürfte Merkels Machtverlust hier kaum Einfluss haben. Anders sieht es bei der Reform der Euro-Zone aus. Es scheint undenkbar zu sein, dass eine intern umstrittene Kanzlerin einer "Vergemeinschaftung" von Risiken vor der Europawahl im Mai zustimmt, da dies in der Union hoch umstritten ist. Die Klagen aus Paris, dass Berlin als Partner nicht mitziehe, werden lauter werden.
Merkel könnte es schwer haben, ihren pragmatischen und liberalen Kurs zu verteidigen
Beim Thema Migration, das weiter das höchste Spaltpotenzial hat, wird Merkel Probleme haben, ihren Kurs zu verteidigen. Sie steht für eine pragmatische, aber liberale Zuwanderungspolitik und für den Willen, trotz aller Restriktionen und Eindämmungsversuche gewisse Mindeststandards nicht zu unterschreiten und das Asylrecht nicht ganz ad absurdum zu führen. Ihr Mantra: die Ströme "ordnen", "illegale" in "legale" Migration überführen. Das war auch der Hintergedanke des EU-Türkei-Abkommens, das sie 2016 durchsetzte: die Route übers Mittelmeer sollte geschlossen, dafür eine andere durch Umsiedlung geöffnet werden. Mit dem Ansatz steht die Bundeskanzlerin in klarer Opposition zu Kollegen wie dem Ungarn Viktor Orbán, die jegliche Grenzen schließen wollen.
Bei dieser Linie wird Merkel bleiben, aber es könnte sein, dass sie den Widerstand gegen Zugeständnisse an die Osteuropäer aufgeben muss. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz wirbt dafür, dass nicht mehr alle Staaten Flüchtlinge aufnehmen müssen, sondern sich nur mit Geld- und Sachleistungen solidarisch zeigen können. Merkel will das bisher nicht zulassen, weil Staaten mit EU-Außengrenzen sonst "alleingelassen" würden. Dass Deutschland ein Aufnahmeland ist, hat sie im Blick; eine funktionierende Flüchtlingsverteilung wäre eigentlich im Interesse jedes Kanzlers. Der Streit blockiert den Fortschritt bei anderen Teilen der Asylreform, die ein sinnvolles Paket darstellt. Weil Orbán sowie Italiens Innenminister Matteo Salvini im Wahlkampf das Bild einer angeblich überforderten EU zeichnen wollen, erscheint eine Lösung unmöglich - und Merkels Stärke oder Schwäche kaum entscheidend.
Größere Folgen könnte ihr Ansehensverlust haben, wenn nach der Europawahl alle Ämter in der neuen EU-Kommission sowie der Chefsessel der Europäischen Zentralbank verteilt werden. Dass die Kanzlerin bei ihrer Pressekonferenz einen Wechsel in ein europäisches Spitzenamt ausschloss, interpretieren viele in Brüssel nicht als allerletztes Wort. Am Montag jedenfalls wird oft erwähnt, dass im November 2019 die Amtszeit von EU-Ratspräsident Tusk endet. Die Freude am Spekulieren lassen sich die Reporter, Thinktanker und Diplomaten nicht nehmen.