Zukunft der EU:An einem Einheitseuropa könnte der Kontinent zerbrechen

Zukunft der EU: Eine Europaflagge im Bundestag

Eine Europaflagge im Bundestag

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Wir brauchen mehr Europa, aber auf keinen Fall überall. Sie sind anderer Meinung? Dann diskutieren Sie an diesem Freitag live mit unserem Autor auf SZ.de.

Kommentar von Thomas Kirchner

"Ever closer union": In der Präambel des aktuellen EU-Vertrages zeigen sich die Mitgliedstaaten noch immer entschlossen, "den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas (...) weiterzuführen". In Großbritannien wurden die eingangs zitierten drei Worte zu einem Kampfbegriff der Brexit-Befürworter. Seht her, sagten sie, dieses Europa ist auf dem Weg zum Superstaat, da machen wir nicht mit.

In Wahrheit steht die EU, was die Fortentwicklung ihrer Staatlichkeit betrifft, längst still. Nach den traumatischen Erfahrungen der vergangenen fünfzehn Jahre - von der gescheiterten Verfassung für Europa über die Euro- bis zur Migrationskrise -, traut sich niemand mehr, die Verträge zu verändern. Denn es könnte desaströs enden und die ohnehin schon vorhandenen Spaltungen zwischen Nord und Süd und Ost und West vertiefen. Man verwaltet also den Status quo und versucht im Zweifelsfall, aus dem, was die Paragrafen hergeben, das Bestmögliche zu machen. Große Sprünge sind denn auch bei der "Konferenz zur Zukunft Europas", die von EU-Kommission und Parlament initiiert wurde und noch vor Ende des Jahres starten soll, nicht geplant.

Aber wäre es überhaupt sinnvoll, dieses einzigartige Gebilde - zwischen Staatenbund und Bundesstaat - strukturell zu verändern, der Union etwa mehr "echte Staatlichkeit" zu verleihen? Manche fordern das, wie der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, der sich mit dem Ruf nach "Vereinigten Staaten von Europa" profilieren wollte. Ein Konzept, wie das aussehen sollte, hat er aber nicht geliefert.

Eine Europäische Republik für alle Bürger?

Konkreter werden jene, die wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eine "Europäische Republik" ausrufen, mit gleichen Rechten für alle 500 Millionen Europäer und einer neuen Aufteilung der Staaten in Regionen, die eine Vertretung in Brüssel bekämen. Andere, wie der französische Ökonom Thomas Piketty, regen eine "europäische Versammlung" an. Sie würde aus Abgeordneten nationaler Parlamente und einem Teil des Europäischen Parlaments bestehen und einen "gesamteuropäischen Haushalt" beschließen, um die sozialen Differenzen in Europa besser auszugleichen.

Diese Thesen sind wertvolle Denkanstöße. Denn es stimmt: Wir brauchen mehr Europa. Aber nicht überall. Mehr Europa brauchen wir ganz sicher in der Finanz- und Währungspolitik. Zumindest solange es den Euro geben soll. Denn ohne eine gemeinsame Politik, die den einzelnen Staaten das Heft aus der Hand nimmt, kann die gemeinsame Währung nicht funktionieren. Was es nicht braucht, ist eine gemeinsame Gesundheitspolitik. Man stelle sich vor, die Corona-Maßnahmen würden aus Brüssel diktiert. Das würde die Union nicht lange überleben. Interessant wird es bei der Migration. Einerseits wäre es wünschenswert und vollkommen sinnvoll, die Kompetenzen hier zu vergemeinschaften und eine Politik aus einem Guss zu schaffen. Andererseits sieht man nicht nur an Polen und Ungarn, wie mächtig der Widerwille gegen einen solchen Schritt noch immer ist. Dasselbe gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik. Natürlich wäre es besser, wenn die EU hier geeinter auftreten könnte. Aber ist es zu verkraften für die Gemeinschaft?

Europa muss vorsichtig sein, es darf die Bürger nicht überfordern, es muss sie mitnehmen. So viel Europa wie nötig, so viel national wie möglich, das scheint eine vernünftige Formel für das weitere Prozedere zu sein. Am Ende wird daraus wie von selbst ein Europa der flexiblen Zusammenarbeit, ein Europa der konzentrischen Kreise entstehen. Mehrere Europas auf einmal mit einer unterschiedlich intensiven Zusammenarbeit. Zum Teil gibt es das schon, siehe Euro. Es könnte auch sein, dass Länder wie Ungarn oder Polen im engeren Kreis keinen Platz mehr finden werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich immer gestemmt gegen diese Idee. Sie hat Angst davor, dass Europa daran zerbrechen könnte. Das Gegenteil ist richtig: Zerbrechen würde der Kontinent an einem Einheitseuropa.

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