Luxemburg (dpa) - Sicherheitsbehörden in der EU dürfen die Telefon- und Internet-Verbindungsdaten der Bürger nicht ohne konkreten Verdacht auf Terrorismus oder eine schwere Straftat speichern lassen.
Eine pauschale Aufbewahrung durch Telekommunikationsunternehmen sei nicht zulässig, erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem höchstrichterlichen Urteil.
Es gebe jedoch besondere, genau definierte Ausnahmefälle: Bei einer akuten Bedrohung der nationalen Sicherheit oder zur Bekämpfung schwerer Kriminalität halten die Richter eine zeitlich begrenzte, begründete Vorratsdatenspeicherung für zulässig - aber nur dann.
Mit seiner Ablehnung flächendeckender, vorsorglicher Datensammlung stärkte das Luxemburger Gericht die Bürgerrechte. Eine direkte Wirkung für Deutschland hat die Entscheidung noch nicht, hierzu läuft ein separates Verfahren. Aus dem Bundesinnenministerium hieß es: „Wir werden das Urteil gründlich auswerten und prüfen, welche Aussagen sich daraus für die deutschen Regelungen ableiten lassen.“
Der EuGH stellt klar: Die Verpflichtung der Anbieter in einigen EU-Staaten, eine „allgemeine und unterschiedslose Übermittlung oder Aufbewahrung von Verbindungs- und Standortdaten“ zu gewährleisten, sei nicht mit dem Europarecht vereinbar. Zwei Einschränkungen wurden dabei jedoch betont. Zum einen darf bei einer unmittelbaren „ernsten Bedrohung der nationalen Sicherheit“ von Regeln zur Vertraulichkeit der Daten abgewichen werden - für einen streng begrenzten Zeitraum.
Außerdem können Behörden im Kampf gegen Schwerkriminalität eine „gezielte Aufbewahrung“ von Daten anordnen, zumal bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Bei konkretem Terrorverdacht dürfen sogar Echtzeit-Daten nach vorheriger Prüfung durch ein Gericht ausgewertet werden. Die Richter mahnen indes: Solche Schritte müssen wegen des Eingriffs in die Grundrechte stets von „effektiven Schutzmaßnahmen“ flankiert werden. Gemeint sind etwa unabhängige gerichtliche Überprüfungen. Die Staaten könnten auch nicht behaupten, dass der Schutz der nationalen Sicherheit allein ihnen obliege, so dass europäische Datenschutzrichtlinien hier nicht anwendbar seien.
Seit Jahren gibt es in mehreren EU-Ländern Streit um das Thema zwischen Sicherheitsbehörden und -politikern auf der einen sowie Bürgerrechtlern und Verbraucherschützern auf der anderen Seite. Die Befürworter argumentieren, bei der Terrorabwehr oder Bekämpfung organisierter Kriminalität müssten Ermittler die Möglichkeit haben, auf gespeicherte Telekommunikationsdaten zuzugreifen. Die Kritiker befürchten eine Beschneidung von Grundrechten, wenn Ermittler keinen hinreichenden Anfangsverdacht gegen mutmaßliche Täter haben.
Gespeichert werden keine Sprach- oder Textinhalte von Telefonaten, SMS oder E-Mails, sondern Verbindungsdaten - also Angaben dazu, wer wann mit wem telefonierte und in welcher Handy-Funkzelle er sich aufhielt. Die aktuell ruhende deutsche Regelung sieht dazu eine Speicherfrist von zehn Wochen vor. Telekommunikationsfirmen speichern die Daten aber auch laufend, zum Beispiel für Abrechnungszwecke. Die Deutsche Telekom hält die IP-Adressen ihrer Nutzer - sozusagen die Anschrift im Internet - nach eigenen Angaben sieben Tage lang vor.
Der EuGH bezog sich zwar im Kern auf Fälle aus Frankreich, Belgien und Großbritannien, in denen nationale Gerichte ihn um eine Einschätzung gebeten hatten. Doch der Grundsatzcharakter des Urteils könnte auch die Diskussion in Deutschland beeinflussen. Im Juni 2017 hatte die Bundesnetzagentur den Speicherzwang für Internet-Provider und Telefonanbieter ausgesetzt - wenige Tage vor dem Inkrafttreten der Vorschriften. Anlass war ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Nordrhein-Westfalen, wonach eine verdachtsunabhängige Speicherung von Standort- und Verkehrsdaten nicht mit EU-Recht vereinbar ist.
Insbesondere Sicherheitsbehörden sowie Unionspolitiker hoffen, dass die Nutzung solcher Daten wieder möglich wird. 2015 hatte die große Koalition schon einmal eine Wiedereinführung des zwischendurch gekippten Instruments beschlossen. Auch aus Teilen der SPD kommt Zuspruch. FDP, Grüne und Linke lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab.
Unions-Vizefraktionschef Thorsten Frei (CDU) erklärte unter Verweis auf die vom EuGH formulierten Beschränkungen, die Entscheidung bleibe hinter den Hoffnungen zurück. „Wenn die Urteile vorliegen, müssen wir prüfen, ob sie wirklich im Kampf gegen Kriminalität im Netz helfen. Ich hoffe, dass der Gerichtshof sich bei Betrachtung der deutschen Regelung hier weiter öffnet.“ Darstellungen sexueller Gewalt gegen Minderjährige werden etwa oft in Online-Netzwerken ausgetauscht. Auf IP-Adressen möchten Ermittler daher länger zurückgreifen können - das EuGH-Urteil lässt dafür in speziellen Situationen durchaus Raum.
Der Chef des Verbands der Internetwirtschaft eco, Oliver Süme, sieht das Urteil als Stärkung der Grundrechte. „Ausnahmeregelungen zwingen zu der Frage, ob es überhaupt eine Vorratsdatenspeicherung geben kann, die mit nationalem und europäischem Recht vereinbar ist.“ Die deutsche Fassung der Vorratsdatenspeicherung sei es jedenfalls nicht.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte in der vorigen Woche angekündigt, „Ermittlern auch die Möglichkeit an die Hand zu geben, die Vorratsdatenspeicherung zu nutzen, soweit dies mit deutschem und europäischem Recht vereinbar ist“. Einige Regierungen in der EU - darunter auch das Bundeskabinett - hatten zuletzt neue Gesetzesinitiativen in Aussicht gestellt, die eine rechtskonforme Speicherung ermöglichen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft schlug „harmonisierte Auflagen für Provider“ mit klaren Bedingungen vor.
Grünen-Politiker begrüßten das Urteil. „Es schützt Grundrechte und bringt noch einmal mehr Rechtssicherheit“, sagten Fraktionsvize Konstantin von Notz und Netzexpertin Tabea Rößner. Die netzpolitische Sprecherin der Linken, Anke Domscheit-Berg, forderte den Bund auf, „endlich den Zombie Vorratsdatenspeicherung zu beerdigen“. Der AfD-Abgeordnete Stefan Brandner verlangte einen ausbalancierten Ansatz, FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae anlassbezogene Speicherung.
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