Ganz am Anfang, als der Applaus zur Begrüßung im Plenum gerade erst verhallt ist, spricht Ursula von der Leyen über Gemeinsamkeiten. „Ich habe den demokratischen Kräften in diesem Haus genau zugehört“, sagt sie am Donnerstagmorgen im Straßburger EU-Parlament. Eine Stunde zuvor hat sie ihr politisches Programm veröffentlicht, ihre „Leitlinien“: das, was sie dem Parlament und der europäischen Öffentlichkeit für die kommenden Jahre verspricht. Es sind 31 PDF-Seiten, in denen sich jeder wiederfinden soll, mit dem sie zusammenarbeiten will, ihre Mitte-Koalition, die Grünen, Teile der Rechten, es ist eine Tour de Force durch die Herausforderungen dieser Zeit.
Bis kurz vor dieser Bewerbungsrede hat von der Leyens Mitarbeiterstab an diesem Dokument gefeilt. Es nimmt vorweg, wie die neu zusammengesetzte Kommission von Herbst an aussehen soll, und was sie unter der Ägide der CDU-Politikerin aus Niedersachsen auf den Weg bringen wird, mit mehreren konkreten Versprechen für die ersten 100 Tage ihrer zweiten Amtszeit. Künftig stehen Europas Sicherheit und die gemeinsame Verteidigungspolitik im Fokus, nach wie vor der Kampf gegen die illegale Migration, die Zukunft der Landwirtschaft, Europas Unabhängigkeit in Energiefragen. Und als Klammer, die alles umgreift: „Unsere oberste Priorität sind Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit“, sagt von der Leyen.
Wasserstoff und strategisch wichtige Rohstoffe sollen gemeinsam eingekauft werden
Dazu verspricht sie wieder einen Deal, so wie vor fünf Jahren, als sie mit dem Grünen Deal ihr ambitioniertes Klimaschutzprogramm vorlegte. Der neue Pakt soll den Namen „Clean Industrial Deal“ tragen, ein wirtschaftspolitisches Programm, das Europas Industrien gleichermaßen stärken und ihnen helfen soll, ihren CO₂-Ausstoß zu reduzieren. In den ersten 100 Tagen ihres Mandats werde sie ihn vorstellen und erste Gesetze vorlegen. Der neue Pakt werde „Investitionen in Infrastruktur und Industrie kanalisieren, insbesondere für energieintensive Sektoren“, kündigt von der Leyen an. Flankiert werden soll das von einem „Wettbewerbsfähigkeitsfonds“, verankert im EU-Haushalt. Was die Kommissionschefin vorhat, liest sich an dieser Stelle wie ein schwarz-grüner Balanceakt.
An dem Ziel, die EU-weiten Kohlendioxidemissionen bis 2040 um 90 Prozent zu senken, hält sie fest. „Wir werden ein Gesetz zur Beschleunigung der industriellen Dekarbonisierung vorlegen“, heißt es in den Leitlinien, „um Industrien und Unternehmen bei der Umstellung zu unterstützen.“ Ziel ist es, in der gesamten EU die Energiepreise zu senken. Dazu will von der Leyen den gemeinsamen Einkauf erweitern, wie ihn die Kommission schon bei Impfstoffen und, seit der kriegsbedingten Energiekrise, beim Erdgas praktiziert: Künftig sollen auch Wasserstoff und strategisch wichtige Rohstoffe gemeinsam eingekauft werden.
Die kollektive Beschaffung ist auch ein Schwerpunkt im Bereich der Verteidigung. „Unsere Verteidigungsausgaben sind zu niedrig und ineffektiv“, sagt von der Leyen im Plenum. „Wir kaufen zu viel im Ausland ein. Und deshalb müssen wir einen Binnenmarkt für Verteidigung schaffen.“ Es gelte, mehr zu investieren, gemeinsam zu investieren und gemeinsame europäische Projekte im Rüstungsbereich zu entwickeln – etwa ein einheitliches Luftverteidigungssystem, wie es als Konzept schon länger zwischen den Mitgliedstaaten diskutiert wird.
Wegen der hohen Bedeutung des Themas will von der Leyen einen Verteidigungskommissar. Der soll in den ersten 100 Tagen des Mandats ein Weißbuch präsentieren und darlegen, wie der bereits existierende Europäische Verteidigungsfonds ausgebaut werden kann, wie ein Rüstungsindustrieprogramm funktionieren kann und wie ein „Binnenmarkt für Verteidigung“ aussehen könnte. In diesem Zusammenhang sind schwierige Diskussionen vorgezeichnet, weil die Kompetenzen der Kommission im Bereich der Verteidigung eng begrenzt sind und es gilt, mit den EU-Bemühungen keine Doppelstrukturen zur Nato aufzubauen.
Doppel- und Dreifachstrukturen, das ist ein zentrales Motiv: Von der Leyen verspricht abermals, Firmen von unnötigen Berichtspflichten zu befreien, sich widersprechende Gesetze in Einklang zu bringen, sie will „das Wirtschaften für unsere Betriebe einfacher und schneller machen“, sagt sie in ihrer Rede. Jeden Kommissar und jede Kommissarin werde sie auffordern, konkrete Maßnahmen zum Bürokratieabbau vorzuschlagen. Einer ihrer künftigen Stellvertreter soll das koordinieren. Das dürfte manchem bekannt vorkommen: Anstatt die Berichtspflichten für Unternehmen deutlich zu senken, wie es von der Leyen vor fünf Jahren angekündigt hatte, kamen etliche neue Pflichten hinzu.
Auffällig ist, wie eng sich von der Leyen an zentralen Forderungen ihrer Europäischen Volkspartei (EVP) orientiert. So verspricht sie, einen „Mittelmeerpakt“ anzustreben, der aufbauen soll auf bereits beschlossenen Investitions- und Migrationsabkommen mit einzelnen Staaten in der südlichen Nachbarschaft der EU. Dazu will sie einen eigenen Kommissar für die Region ernennen. Um die Außengrenzen besser zu schützen, soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex auf 30 000 Beamte aufgestockt werden.
Die Rechtsstaatlichkeit bleibt Bedingung für finanzielle Unterstützung
Ein wichtiges Anliegen der EVP war es auch, beim Klimaschutz einen Gang herunterzuschalten. Das tut von der Leyen, indem sie zwar am Grünen Deal und dessen Zielen festhält, allerdings nur betont, dass es jetzt an die Umsetzung gehe. Neue Klimaschutz-Ambitionen formuliert sie nicht. Sie verspricht lediglich einen Klima-Anpassungsplan, mit dem Europa besser auf die Herausforderungen von Extremwetter, auf Waldbrände und Hitzewellen vorbereitet werden soll.
Schließlich gibt sie noch das von allen demokratischen Parteien verlangte Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit ab. Mit Blick auf den nächsten mehrjährigen EU-Haushalt werde es „eine engere Verbindung zwischen den Empfehlungen des Berichts zur Rechtsstaatlichkeit und der finanziellen Unterstützung“ geben. Dazu verspricht von der Leyen „strenge Garantien für die Rechtsstaatlichkeit“, die darin bestehen sollen, dass die Auszahlung sämtlicher EU-Gelder an die Wahrung des Rechtsstaats geknüpft bleibt – woran die EU-Abgeordneten die Kommissionspräsidentin in ihrer zweiten Amtszeit genau messen werden.