Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Geld gegen Frust

Der Gipfel in Slowenien wird es wieder zeigen: Für die sechs Westbalkan-Staaten gibt es trotz aller gegenteiliger Bekundungen noch immer keine reale Aussicht, jemals Mitglied der EU zu werden. Nur Trostpflaster.

Von Josef Kelnberger und Matthias Kolb, Brdo pri Kranju

Angela Merkel ist an einen Ort gereist, der die Geschichte des Balkans atmet. Das Schloss Brdo, etwa 30 Kilometer nordwestlich von Ljubljana gelegen, wurde von den Habsburgern gebaut, später nutzte es die jugoslawische Königsfamilie, nach 1945 diente es Jugoslawiens Staatschef Tito als Sommerresidenz. Heute ist das Schmuckstück im Eigentum der Republik Slowenien, seit 2004 stolzes Mitglied der Europäischen Union. In einer idealen Welt würde das Schloss am Mittwoch beim Westbalkan-Gipfel der Europäischen Union, mit Sloweniens Premier Janez Janša als Gastgeber, zur Bühne einer weiteren Europäisierung des Westbalkans werden. Aber die Dinge sind komplizierter. Das weiß niemand besser als Angela Merkel, auf der in Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo so viele Hoffnungen auf Fortschritte in Richtung eines EU-Beitritts ruhten.

Merkel wurde mit warmen Worten überschüttet, als sie Mitte September den Westbalkan besuchte. "Ich denke, dass keine Person nach dem Krieg mehr für unsere Region getan hat als die Bundeskanzlerin", sagte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, "aber noch wichtiger ist meiner Meinung nach, dass keine Person diese Region besser verstanden hat." Daraus spricht die Sorge, nach Merkels Abgang würden die EU-Anführer noch weniger Verständnis für den Transformationsprozess in Südosteuropa haben - immerhin eine Region, in welcher der letzte Krieg kein Vierteljahrhundert zurückliegt. Für diese Sorge gibt es gute Gründe.

Die Verhandlungen über die "Erklärung von Brdo" im Vorfeld des Gipfels verliefen zäh. Erst am Montagnachmittag einigten sich die 27 Mitgliedstaaten darauf, dass das Wort "Erweiterung" überhaupt darin vorkommt. 2020, im Abschlussdokument des virtuellen Westbalkan-Gipfels, hatte der Begriff noch gefehlt. Die dezente Perspektive eines Beitritts der sechs Länder wird nun gekontert mit einem scharfen Verweis auf die begrenzte Aufnahmekapazität der EU und die Werte, die es einzuhalten gelte: Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit.

Als größte Bremser agieren neben dem schon wahlkämpfenden Franzosen Emmanuel Macron die Regierungen aus Dänemark und den Niederlanden. Sie bemängeln nicht nur, dass die 2007 der EU beigetretenen Länder Bulgarien und Rumänien zu wenige Reformen umsetzen; auch die Entwicklungen in Ungarn und Polen, auf die Merkel stets mit Nachsicht reagierte, sind warnende Beispiele. Dass Gastgeber Janša sogar festhalten wollte, dass der Beitritt der sechs Länder bis zum Jahr 2030 abgeschlossen sein sollte, half nur bedingt: Ein Land kann nur in die EU aufgenommen werden, wenn alle Mitglieder zustimmen und es strenge Kriterien erfüllt.

30 Milliarden Euro für die kommenden sieben Jahre

Diesem "leistungsabhängigen" Ansatz widerspricht es, ein konkretes Beitrittsdatum für alle sechs Länder zu nennen. Diese sind unterschiedlich weit auf ihrem Weg in Richtung EU. Hinten liegen Bosnien-Herzegowina und Kosovo: Die Unabhängigkeit der ehemals serbischen Provinz wird nur von 22 der 27 EU-Staaten anerkannt. Konkret über einen EU-Beitritt verhandeln seit 2012 das Nato-Mitglied Montenegro sowie seit 2014 Serbien. Allerdings gibt es wenig Fortschritte: Die Nichtregierungsorganisation Freedom House stuft beide - wie übrigens auch das EU-Mitglied Ungarn - seit 2020 nicht mehr als Demokratien ein, sondern als "hybride Regime". Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, dessen Partei der Europäischen Volkspartei (EVP) mit CDU und CSU nahesteht, wird etwa Machtmissbrauch und Einschüchterung vorgeworfen.

Albanien und Nordmazedonien hingegen befinden sich seit Jahren im Wartestand. Laut EU-Kommission erfüllen beide die Voraussetzungen für den Beginn von Beitrittsgesprächen. Diese sollen im Paket eröffnet werden, doch das wurde zunächst von Griechenland blockiert. Athen gab erst nach, nachdem Nordmazedonien einen neuen Namen angenommen hatte. Dann legte ein anderer Nachbar sein Veto ein: Sofia fordert von Skopje die Anerkennung, dass die mazedonische Sprache nur ein Dialekt des Bulgarischen sei. Diese Haltung gefällt vielen Bulgarinnen und Bulgaren, sodass vor der Parlamentswahl im November ein Kompromiss unmöglich erscheint.

Die Enttäuschung und den Frust, die sich in der Region breitgemacht haben, versucht die EU nach bewährter Manier mit Geld zu bekämpfen. Insgesamt 30 Milliarden Euro - davon neun Milliarden als direkte Hilfen, der Rest über Bürgschaften - will die EU in den kommenden sieben Jahren mobilisieren, um die Länder des Westbalkans einerseits miteinander, andererseits mit dem Rest Europas zu verbinden. Das Geld fließt in Infrastrukturmaßnahmen, etwa den Bau der "Friedensautobahn" zwischen dem serbischen Niš und der kosovarischen Hauptstadt Pristina. Es soll den Ländern aber auch helfen, die Wirtschaft klimaneutral umzubauen.

Wichtig für die Menschen: Die Roaminggebühren zwischen der EU und der Region sollen gesenkt werden. Zusammenarbeiten will man im Kampf gegen Kriminalität und Terror und bei der Beschaffung von Corona-Impfstoffen. Im Gegenzug sollen sich die sechs Länder verpflichten, ihren Bürgerinnen und Bürgern stärker zu vermitteln, wie bedeutend die Beziehungen zur EU sind. Russland und China versuchen ja unverhohlen, ihren Einfluss auszubauen.

Merkel will auf den Westbalkan zurückkehren - als Urlauberin

Schon Angela Merkel hatte sich zum Ziel gesetzt, während der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien zu ermöglichen. Dies gelang ihr nicht, weshalb sie Albaniens Ministerpräsident Rama nun "keine übergroßen, aber kleine Fortschritte" beim Westbalkan-Gipfel in Aussicht stellte.

Am Dienstagabend erhielt sie auf Schloss Brdo von Präsident Borut Pahor den slowenischen Orden für besondere Verdienste überreicht. Noch ein sentimentaler Moment, aber ihr Einfluss schwindet. Ein Versprechen kann sie allerdings ganz aus eigener Kraft einhalten: nach ihrer Amtszeit auf dem Westbalkan Urlaub zu machen.

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