EU:Ein pauschaler Verdacht ist zu wenig

Gerichte in Europa dürfen Auslieferungen nach Polen nicht grundsätzlich verweigern, entscheidet der Europäische Gerichtshof. Doch sie können Informationen einholen - und dabei unangenehme Fragen stellen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Bisher waren dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Sachen Polen weitgehend die Hände gebunden - doch nun hat das oberste EU-Gericht einen ersten Schritt unternommen, um dem dortigen Abbau der Rechtsstaatlichkeit entgegenzuwirken. Am Mittwoch hat der EuGH über eine Vorlage des irischen High Court entschieden, die es in sich hatte. Es ging um drei EU-Haftbefehle polnischer Gerichte, normalerweise setzt das einen Auslieferungsautomatismus in Gang; unter EU-Mitgliedstaaten gilt das Prinzip des wechselseitigen Vertrauens. Die irischen Richter aber wähnten die Unabhängigkeit der polnischen Justiz derart ausgehöhlt, dass man, Vertrauen hin oder her, mutmaßliche Straftäter generell nicht mehr dorthin ausliefern könne. Kronzeuge des High Court ist die EU-Kommission, die im vergangenen Dezember ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet hat.

Die Antwort des EU-Gerichts auf den irischen Vorstoß ist indes verhalten ausgefallen. Eine Auslieferung kann danach nur dann verweigert werden, wenn auch im konkreten Fall eine "echte Gefahr" dafür besteht, dass der Betroffene in die Hände eines politisch abhängigen oder rechtsstaatswidrig zusammengesetzten Gerichts gerät und daher keine Aussicht auf ein faires Verfahren hat. Mit andern Worten: Richter müssen die Justizstrukturen ihrer EU-Nachbarn zu durchleuchten versuchen. Das ist nicht ganz einfach; auch in Polen kann man die Justiz nicht als flächendeckend rechtsstaatswidrig bezeichnen, zumal in ganz normalen Kriminalfällen. Ein Pauschalverdacht jedoch, mag er noch so begründet sein, genügt laut EuGH nicht, um eine Auslieferung abzulehnen.

Damit unternimmt der EuGH den Versuch, das bisher halbwegs funktionsfähige System des EU-Haftbefehls zu erhalten; im Urteil lobt er es als "erste konkrete Verwirklichung der gegenseitigen Anerkennung". Zugleich liefert das Urteil ein Instrumentarium für die Gerichte in Europa, bei Auslieferungsfällen rechtsstaatliche Fehlentwicklungen in europäischen Staaten zumindest zu thematisieren. Ein ähnlicher Mechanismus lässt sich derzeit etwa bei EU-Haftbefehlen beobachten, die wegen menschenrechtswidriger Haftbedingungen infrage gestellt werden.

Denn bevor die Gerichte bei Haftbefehlen die konkreten Risiken für die Betroffenen prüfen, haben sie - in einem ersten Schritt - zu untersuchen, ob in dem Land, das den Haftbefehl ausgestellt hat, "systemische Mängel" herrschen. Und in diesem Punkt bringt das Urteil eine wichtige Innovation. In den früheren Haftbefehlsentscheidungen des EuGH ging es um die Gefahr einer "unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung". Künftig gilt dies auch für mögliche Defizite bei der richterlichen Unabhängigkeit, die "zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehört". Sprich: Es gehört fortan zum Prüfungsschema, ob der Haftbefehl von einem Gericht stammt, das seine Funktion "in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten", heißt es in dem Urteil. Besonders wichtig: Die Gerichte können sich hier auf das Rechtsstaatsverfahren der EU-Kommission berufen. Explizit weist der EuGH auf die Gefahr von Disziplinarverfahren hin, mit denen Richter gegängelt werden könnten. Das kann man als Kommentar zur jüngsten Einrichtung von Disziplinarkammern durch die Warschauer Pis-Regierung lesen, die aus Sicht von Kritikern erhebliches Missbrauchspotenzial bergen.

Mit seinem Urteil gibt der EuGH den Gerichten zwar kein wirklich scharfes Schwert in die Hand. Er installiert aber eine Art paneuropäischer Supervision in Sachen richterlicher Unabhängigkeit. Denn zur Überprüfung ihres Verdachts, bei den Nachbarn gehe nicht alles mit rechten Dingen zu, können Gerichte dort Informationen einholen - und dabei unangenehme Fragen stellen.

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