Süddeutsche Zeitung

Visa-Freiheit:Warum die EU jetzt um den Deal mit der Türkei fürchtet

  • Noch immer sind beim EU-Türkei-Deal sieben Punkte offen, unter anderem die wohl heikelsten.
  • Bislang wurden alle Vereinbarungen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu getroffen. Der hat jedoch jüngst seinen Rücktritt vom AKP-Vorsitz angekündigt.
  • Wie es mit dem Deal weitergehen und ob der türkische Machtkampf sich auf ihn auswirken wird, ist plötzlich wieder offen.

Von Thomas Kirchner

Man merkt und sieht sogar den zuständigen EU-Beamten den Kraftakt an, den die Türkei auf dem Weg zur heiß begehrten Visaliberalisierung hinter sich gebracht hat. Rund um die Uhr waren die Europäer in Kontakt mit ihren Kollegen in Ankara, persönlich oder per Videoschalte, beratend, korrigierend, wohl auch ein bisschen mitfiebernd. Als nun einer von ihnen am Mittwoch sichtlich erschöpft den "ziemlich spektakulären Fortschritt" der Türkei im Detail darlegt, wirkt das tatsächlich beeindruckend.

Innerhalb weniger Wochen, teilweise noch in den letzten Tagen hat Ankara demnach eine ganze Batterie der 72 Bedingungen der EU abgearbeitet. Arbeitsmarkt für Flüchtlinge geöffnet, Rückstau von Flüchtlingsanträgen reduziert, Nutzung von elektronischen Visa begrenzt, Verhandlungen über Rücknahmeabkommen mit 14 Ländern gestartet, Aktionsplan zum Schutz von Roma beschlossen, diverse internationale Konventionen unterzeichnet: Haken dahinter. Um im Zeitplan zu bleiben, musste sogar eine extra Maschine für den Flug nach Ankara gechartert werden.

Sieben Punkte stehen noch aus - sie gehören zu den heikelsten

Aber leider, leider: Es sind noch ein paar Punkte offen. Die Kommission hat ihre Empfehlung, türkischen Bürgern von Juli an die quälende Visa-Beantragung für Reisen in die EU zu ersparen, nur unter Vorbehalt geben können. Und das ist ein Problem, ein großes. Nicht nur, weil seit Unterzeichnung des Deals mit der Türkei Mitte März ungefähr 200 europäische Amtsträger betont haben, es könne "keinen Rabatt" für die Türkei geben, die Kommission dürfe die Visabefreiung also erst empfehlen, wenn wirklich alle Bedingungen restlos erfüllt worden seien. Sondern auch, weil die noch ausstehenden fünf Punkte naturgemäß zu den heikelsten zählen. Einige sind so heikel, dass sie nicht per Federstrich in Ankara aus der Welt geschafft werden können, schon gar nicht bis Ende Juni.

In Wahrheit sind sogar sieben Punkte offen. Zwei davon sind aber zur Zufriedenheit der EU geklärt und nur aus zeitlichen Gründen noch nicht abgehakt. Einer betrifft die Ausgabe neuer biometrischer Pässen inklusive gespeicherter Fingerabdrücke, mit deren Produktion die Türkei Anfang Juni beginnen wird. Der andere das Rückführungsabkommen mit der EU, das erst im Juni in Kraft tritt.

Allerlei "Aktionspläne", aber "wenig Fortschritt", bilanziert die Kommission

Was die übrigen Punkte angeht, beschreibt ein Arbeitsdokument der Kommission in schonungsloser Härte, welch großen Sprung die Türkei noch machen müsste. Etwa bei Punkt 42, dem Kampf gegen Korruption. Allerlei "Aktionspläne" seit 2010, notiert die Kommission, aber "wenig Fortschritt". Noch immer seien vor allem Parteien und Abgeordnete finanziellem Druck und Beeinflussungsversuchen der Regierung ausgesetzt. Laut einem Expertenbericht sei auch die Justiz insgesamt nicht unabhängig genug von der Exekutive.

Das spielt auch eine Rolle bei Punkt 56, dem Datenschutz, der für die Justiz-Kooperation mit der EU unabdingbar ist. Zwar hat die Türkei dazu endlich ein Gesetz erlassen (zum ersten Mal überhaupt), doch trotz Mahnungen seitens der EU und intensiver Hilfestellung ist es nicht gelungen, eine von der Regierung unabhängige Aufsichtsbehörde zu konstruieren und das Handeln aller Sicherheits- und Justizbehörden in den Datenschutz einzubeziehen.

Ebenfalls ungenügend bleibt aus Brüsseler Sicht die Antiterror-Gesetzgebung der Türkei. Noch immer sei die Terror-Definition "zu breit". Wenn aber nicht genau definiert werde, was unter Terror zu verstehen sei, könne dies "ernsthafte Beschränkungen der Menschenrechte und der Grundfreiheiten" nach sich ziehen. Außerdem fehle in den Gesetzen weiterhin das Prinzip der Proportionalität, wonach Vergehen und Strafe in angemessenem Verhältnis zueinander stehen müssen.

Auf die "Was-wenn-nicht?"-Frage lässt sich die Kommission nicht ein

Ist das noch zu schaffen? Die Kommission will fest daran glauben. "Wir gehen davon aus." Auf die "Was-wenn-nicht?"-Frage ging sie gar nicht erst ein. Im Übrigen gelte, so ein trotziger Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans: "Was hat es denn für die Menschenrechte und den Rechtsstaat in der Türkei gebracht, dass wir einander jahrelang über den Zaun hinweg angebrüllt haben? Wir müssen mit ihnen in eine Beziehung treten, dann können wir solche Dinge beeinflussen."

Viele sehen das anders, wie der wütende Protest linker, konservativer und rechtspopulistischer Politiker gegen die Kommissionsempfehlung bezeugt. Ob diese eine Mehrheit im Parlament und unter den Mitgliedstaaten findet, lässt sich schwer sagen. Falls nicht, steht das Abkommen mit der Türkei zur Disposition. Das könnte allerdings auch der Sturz von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu bewirken, aus Brüsseler Sicht ein schwerer Rückschlag für den Prozess der Annäherung.

All die komplizierten Teile des Deals, für die auch Ankara über manchen Schatten springen musste, wurden schließlich mit dem gemäßigten Teil der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan vereinbart, mit Davutoğlu und seinen Leuten, während man den Präsidenten in der Ferne grollen hörte. Dass in Ankara bei dieser außenpolitischen Richtungsentscheidung nicht alle an einem Strang zogen, war unübersehbar. Wie es nun weitergeht, was der türkische Machtkampf für die Kooperation mit der EU bedeutet, ob wirklich der ganze Deal infrage gestellt wird, was die Flüchtlingskrise wieder voll aufbrechen lassen würde: All das ist plötzlich so offen, dass es Verantwortlichen in Europas Hauptstädten schwindlig werden könnte.

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SZ vom 06.05.2016/vit
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