Am Ende war es viel zu viel, waren die Lager voll und die Impfzentren menschenleer, erreichten die Fläschchen mit dem erlösenden Serum millionenfach ihr Verfalldatum. Die EU-Staaten hatten während der Pandemie so viel Impfstoff gegen das Coronavirus bestellt, dass sie Hunderte Millionen Dosen vernichten mussten. Wie viel da europaweit auf dem Müll landete in jüngerer Zeit, das konnte man ungefähr berechnen. Aber wie viel das gekostet hatte, was an den interessanten Stellen in den Rahmenverträgen zwischen der EU-Kommission und den Impfstoffherstellern stand, welche Nebenabreden es gab? Blieb weitgehend im Dunkeln.
Das könnte sich zumindest teilweise noch ändern. Mit einem deutlichen Richterspruch hat das EU-Gericht am Mittwoch geurteilt, dass die Kommission die Öffentlichkeit unzureichend über die milliardenschweren Impfstoff-Kaufverträge informiert hat (Aktenzeichen T-689/21 und T-761/21). Dieser Verstoß betreffe „insbesondere die Entschädigungsbestimmungen dieser Verträge und die Erklärungen über das Nichtvorliegen von Interessenkonflikten“, welche die Mitglieder des Verhandlungsteams für den Kauf der Impfstoffe abgegeben haben, urteilte das erstinstanzliche Gericht in Luxemburg. Die Kommission hat in den veröffentlichten Versionen der Verträge also zu viel geschwärzt, respektive diese Schwärzungen zu schlecht begründet. Die Entscheidung kann noch in Revision zum Europäischen Gerichtshof angefochten werden.
Am Donnerstag wird über von der Leyens zweite Amtszeit abgestimmt
Was für ein Timing. Das Gericht verkündete sein Urteil etwa 24 Stunden, bevor Ursula von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg ihre Bewerbungsrede für eine zweite Amtszeit hält. Während der ersten fünf Jahre attestierten Kritiker ihr oft einen Hang zur Intransparenz, was sie nun einholt.
Kaum ein Vorgang illustriert das so gut wie die Impfstoffbeschaffung: Weder hat von der Leyen ihre direkte SMS-Kommunikation mit dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, offengelegt, noch ermöglichte sie EU-Parlamentariern und der interessierten Öffentlichkeit umfassenden Einblick in die Kaufverträge und die Rahmenbedingungen der Impfstoffkäufe. Das schürte Misstrauen und brachte ihr sogar ein – wenn auch bizarres – Strafverfahren in Belgien ein. Auch die Europäische Staatsanwaltschaft untersucht in einem laufenden Verfahren die Impfstoffbeschaffung auf EU-Ebene.
Das EU-Gericht urteilte am Mittwoch in zwei Verfahren auf einmal. Die eine Klage stammte von Rechtsanwälten, die andere von EU-Abgeordneten der Grünen. Diese hatten bereits Ende 2020 EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides attackiert, die daraufhin versprach, ihnen einen Vertrag mit dem deutschen Impfstoffhersteller Curevac zugänglich zu machen. Das geschah nach dem Jahreswechsel dann auch – allerdings waren die entscheidenden Stellen geschwärzt. Nach einem weiteren, erfolglosen Antrag auf Zugang zu den geschwärzten Informationen, dann auch im Hinblick auf Verträge mit Pfizer und Astra Zeneca, erhoben fünf Grünen-Abgeordnete die Nichtigkeitsklage, der das Gericht nun teilweise stattgab.
„Elementare Bedeutung von Transparenz im Kampf gegen Impfskepsis.“
Das Urteil „unterstreicht die elementare Bedeutung von Transparenz im Kampf gegen Impfskepsis und das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber öffentlichen Einrichtungen“, sagte die deutsche Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus. Es sei „wegweisend“, da gemeinsame Beschaffungen in Bereichen wie Gesundheit und Verteidigung künftig häufiger vorkommen würden. „Die neue EU-Kommission muss nun darauf hinarbeiten, den Zugang zu Dokumenten im öffentlichen Interesse zu verbessern, um dem heutigen Urteil gerecht zu werden“, sagte Paulus.
Die Kommission kündigte an, das Urteil genau zu prüfen. Zugleich betonte die Behörde, das Gericht sei ihr in vielen Punkten gefolgt und habe den Klagen nur in zwei Punkten teilweise stattgegeben. Insbesondere sei sie im Recht, wenn sie die Produktionsstandorte, die Bestimmungen über die Rechte an geistigem Eigentum, Klauseln zu Anzahlungen oder Vorauszahlungen sowie Lieferpläne geheim halte.
Man habe „ein schwieriges Gleichgewicht“ finden müssen zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und „den rechtlichen Anforderungen, die sich aus den Covid-19-Verträgen selbst ergeben“, teilte die Kommission mit. Das Europäische Parlament sei zu jeder Zeit umfassend über die Verträge informiert worden. Die Kommission behalte sich alle rechtlichen Schritte vor, hieß es. Das lässt darauf schließen, dass die Behörde eine Entscheidung am EuGH anstrebt.
Die EU-Kommission hatte in den Jahren 2020 und 2021 im Namen der Mitgliedstaaten eine Reihe von Verträgen mit Pharmaunternehmen über die Lieferung von insgesamt 4,2 Milliarden Corona-Impfstoffdosen abgeschlossen. Das zielte darauf ab, sich frühzeitig möglichst viele verschiedene Impfstoffe zu sichern, noch bevor diese teilweise von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassen wurden. Bestellt hatten die Mitgliedstaaten am Ende etwa 1,5 Milliarden Dosen, mehr als drei für jeden EU-Bürger.