Süddeutsche Zeitung

Pandemiefolgen:Eine große Wette auf die Zukunft

Digitales, Klima, Frauenförderung: Das milliardenschwere Corona-Programm soll die EU tiefgreifend modernisieren. Doch kann das funktionieren?

Von Björn Finke, Brüssel, und Leo Klimm, Paris

Es geht um gigantisch viel Geld und eine neue Form europäischer Solidarität. Und doch scheinen es die meisten EU-Regierungen nicht eilig zu haben. Bis Ende April, also bis Freitag, haben die Mitgliedstaaten Zeit, bei der EU-Kommission Investitions- und Reformpläne einzureichen. Diese sind Voraussetzung dafür, von den Milliarden aus dem Corona-Hilfstopf zu profitieren. Aber bislang hat nur Portugal finale Pläne nach Brüssel geschickt; Deutschland und Frankreich stellten ihre Konzepte am Dienstag vor. Viele andere Länder diskutieren mit der Kommission noch über Planentwürfe - bis auf die entspannten Niederländer, von denen nicht einmal eine Skizze bei der Behörde eingegangen ist.

Ein hoher Kommissionsbeamter betont, dass Ende April keine harte Frist sei; man erwarte bis Freitag ein Dutzend Pläne und den Rest in den Wochen darauf: "Qualität ist hier wichtiger als Geschwindigkeit." Über die Qualität muss die Kommission befinden, binnen zwei Monaten. Gibt sie grünes Licht, müssen noch die Mitgliedstaaten zustimmen, und dann - von Juli an - könnte die erste üppige Tranche fließen.

In den vergangenen Wochen hat die Behörde mit den EU-Regierungen intensiv über die Konzepte debattiert - damit die Freigabe schnell erfolgen kann und damit sich niemand im Dickicht der ganzen Anforderungen verliert. Denn die Erwartungen sind riesig. Schließlich wird sich die EU für den Corona-Topf erstmals im ganz großen Stil verschulden, mit bis zu 806 Milliarden Euro. Die Hilfen sollen auch kein schnödes Konjunkturpaket sein. Dafür kommen sie ohnehin zu spät; die meisten Zuschüsse sollen erst 2023 und 2024 überwiesen werden, der Rest bis 2026. Vielmehr sollen die Reformen und staatlichen Investitionen die Wirtschaft der Empfängerländer nachhaltig stärken und widerstandsfähiger machen. Auf dass sie bei der nächsten Krise nicht wieder den EU-Partnern auf der Tasche liegen.

Joachim Schuster, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Europaabgeordneten, spricht von einer "europapolitischen Kehrtwende, die noch Anfang letzten Jahres undenkbar gewesen wäre". Tatsächlich hat sich gerade die Bundesregierung lange dagegen gewehrt, dass die EU Schulden aufnimmt, um klammen Mitgliedstaaten unter die Arme zu greifen. Ob der Topf wirklich die Richtung der Europapolitik ändere, hänge aber davon ab, wie erfolgreich die unterstützten Projekte seien, warnt Schuster. Und hier sind manche Fachleute und Europaabgeordnete skeptisch.

Es gibt viele Ziele - vielleicht zu viele?

Herzstück des Corona-Fonds ist ein neues EU-Programm mit dem schönen Namen Aufbau- und Resilienzfazilität. Darüber wird die Kommission den Großteil der nicht rückzahlbaren Zuschüsse an die Mitgliedstaaten verteilen - 338 Milliarden Euro - sowie bis zu 386 Milliarden Euro an zinsgünstigen Darlehen. Das meiste geht an Spanien und Italien (Grafik). Die Reform- und Investitionspläne, welche die Staaten dafür einreichen, müssen diverse Kriterien erfüllen. So sollen mindestens 37 Prozent der Hilfen dem Klimaschutz dienen und 20 Prozent der Digitalisierung. Kein Projekt darf der Umwelt massiv schaden; zudem sollen auch Frauen angemessen von den Vorhaben profitieren.

Außerdem reicht es nicht, nur hübsche Investitionen zu planen. Die Regierungen müssen gleichzeitig wirtschafts- und sozialpolitische Reformen versprechen und sich dabei an den Empfehlungen orientieren, welche die Kommission jährlich für jedes Land veröffentlicht - und die bislang oft ignoriert werden. Der Volkswirt Jorge Núñez Ferrer vom Centre for European Policy Studies in Brüssel warnt in einer Studie, dass diese Flut an Vorgaben und Zielen zu einem "Mangel an Fokus" führe und ein Risiko für den Erfolg des Programms darstelle.

Einen anderen Mangel sieht der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. "Ein Problem, das sich durch alle Planentwürfe zieht, ist der Mangel an Reformeifer", sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion. Die Kommission empfehle viele "unbequeme" Reformen, etwa im Renten- und Steuersystem, doch das nähmen Regierungen nur ungern in ihre Konzepte auf.

Frankreich verspricht eine Reform, die ohnehin geplant war

Die EU-Kommission hat ebenfalls eingeräumt, es sei eine Herausforderung, in den Plänen eine Balance zwischen Investitionen und Reformen herzustellen. Regierungen investieren eben viel lieber in das Ladenetz für Elektroautos, als dass sie sich an heikle, aber wachstumsfördernde Reformen des Arbeitsmarktes heranwagen. Trotzdem gilt es als ausgeschlossen, dass die Behörde am Ende einen Plan ablehnt und die Zuschüsse zurückhält.

Der CSU-Abgeordnete Ferber fürchtet daher um die langfristige Wirkung des Corona-Topfes: "Ohne Reformagenda wird dieses Hilfsprogramm keinen großen Unterschied machen; schwache Mitgliedstaaten werden nicht widerstandsfähiger und wirtschaftsstärker."

Vom Plan des zweitgrößten Mitgliedstaates Frankreich - symbolträchtig zusammen mit dem deutschen vorgelegt - ist der Wirtschaftspolitiker ebenfalls enttäuscht. "Der Anteil an tatsächlichen Zukunftsinvestitionen ist viel zu gering", sagt Ferber. Frankreich will die fast 40 Milliarden Euro aus Brüssel nutzen, um Projekte aus dem nationalen Konjunkturpaket zu finanzieren. Dieses umfasst 100 Milliarden Euro. Der zuständige Minister Bruno Le Maire möchte ein Drittel davon in den ökologischen Umbau der Wirtschaft investieren, zum Beispiel in Wärmedämmung von Gebäuden.

Allerdings wird das Paket auch schlicht neue und alte Finanzlöcher stopfen. So soll es Verluste für die Staatsbahn SNCF ausgleichen und Job-Subventionen für Jugendliche oder Kurzarbeitergeld finanzieren. Größter Einzelposten ist die Senkung von Unternehmenssteuern um jährlich zehn Milliarden Euro. Als Gegenleistung für das EU-Geld sagt Paris vor allem eine Reform der Arbeitslosenversicherung zum 1. Juli zu - die von der Regierung ohnehin geplant war. Bei Frankreichs Gewerkschaften stößt das Vorhaben auf Kritik, weil die Reform manche prekär Beschäftigten schlechter stellt.

Deutschland steht für 88 Milliarden Euro gerade

Damit die Milliarden aus dem Corona-Topf überhaupt fließen können in Europa, muss aber eine Voraussetzung erfüllt sein. Die Mitgliedstaaten müssen der Kommission zuvor erlauben, erstmals im großen Stil Schulden aufzunehmen. Zurückgezahlt werden sie bis 2058 aus dem EU-Haushalt - rein rechnerisch steht damit Deutschland für 88 Milliarden Euro gerade, um die 338 Milliarden Euro an Zuschüssen zu finanzieren.

Die Lizenz zum Schuldenmachen ist der sogenannte Eigenmittelbeschluss. Den haben bislang 19 Länder ratifiziert - acht fehlen also noch. Die Kommission hofft, dass dies bis Ende Juni überall abgeschlossen ist. In Deutschland unterzeichnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das entsprechende Gesetz am Freitag. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Ausfertigung zwischenzeitlich blockiert, wegen einer Klage gegen die Schuldenpolitik.

Eine wichtige Hürde wurde damit überwunden. Ob die Corona-Hilfen wirklich ein Erfolg sind, wird sich aber erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zeigen.

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