Süddeutsche Zeitung

Urteil des Bundesverfassungsgerichts:Bundestag darf in der EU-Außenpolitik mitreden

Ob EU-Türkei-Deal oder Schleuser auf dem Mittelmeer: Die Regierung muss den Bundestag über wichtige Verhandlungen auf EU-Ebene informieren. Das dürfte weitreichende Konsequenzen haben.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die schwarz-rote Bundesregierung hat im Zuge der europäischen Bemühungen, die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 in den Griff zu bekommen, die im Grundgesetz garantierten Informationsrechte des Bundestags verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat an diesem Mittwoch Klagen der Fraktionen von Grünen und Linken stattgegeben. Die Regierung mit ihrem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hätte das Parlament über das Konzept des Europäischen Rates zum Krisenmanagement informieren müssen, "sobald es in ihren Einflussbereich gelangt war".

Auslöser der politischen Aktivitäten war eine Katastrophe mit Hunderten Toten, ein Flüchtlingsschiff war vor der libyschen Küste gesunken. Im April 2015 traf sich der Europäische Rat, kurz darauf lag der Bundesregierung das Konzept der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik vor. Ziel war ein härteres Vorgehen gegen Schleuser und die Beschlagnahmung ihrer Schiffe. Aber das Auswärtige Amt ließ das Parlament im Dunklen, trotz Nachfragen der Grünen.

Einblick gab es erst drei Tage nach dem Start der Militäroperation

Am 18. Mai beschloss der Rat der EU eine Militäroperation im Mittelmeer, die später "Operation SOPHIA" genannt wurde. Drei Tage nach dem Beschluss gewährte das Außenministerium wenigstens den Mitgliedern der zuständigen Ausschüsse Einblick in das Konzept - freilich nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags. Erst am 16. September wurde der gesamte Bundestag mit der Angelegenheit befasst; man brauchte schließlich dessen Zustimmung, um Marinesoldaten ins Mittelmehr zu schicken.

Das Karlsruher Urteil ist wegweisend für die Reichweite von Artikel 23 Grundgesetz, der eine Unterrichtung des Bundestags in EU-Angelegenheiten vorschreibt. Die Norm war 1992 geschaffen worden als Ausgleich für Verluste, die das Parlament im Zuge der europäischen Integration erlitten hat - weil viele Vorschriften auf EU-Ebene erlassen werden. Die mittlerweile von der Ampelkoalition gestellte Regierung hatte in der Karlsruher Anhörung im Juni freilich die Position vertreten, wenn es um europäische Außen- und Verteidigungspolitik gehe, müsse der Bundestag nicht informiert werden - weil er für diese Politikfelder ohnehin nicht zuständig sei.

Das Bundesverfassungsgericht hingegen sieht die Vorschrift als eine Art verfassungsrechtlichen Neustart. Mit Artikel 23 habe der Gesetzgeber "die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Legislative im Bereich der auswärtigen Gewalt für die Angelegenheiten der Europäischen Union neu geordnet und dem Deutschen Bundestag weitreichende Mitwirkungsrechte eingeräumt". Damit stärkt Karlsruhe die Rolle des Parlaments im wahrscheinlich immer wichtiger werdenden Feld der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Dem Urteil zufolge muss die Regierung auch über frühe Stadien von Verhandlungen informieren, denn solche "Entscheidungen von erheblicher Tragweite" müssten in öffentlicher Debatte diskutiert werden. Geheimhaltung sei nur ausnahmsweise in eng begrenzten Fällen zulässig. Mit der verspäteten Unterrichtung sei letztlich verhindert worden, dass der Bundestag auf das europäische Krisenmanagement noch habe Einfluss nehmen können. Aus denselben Gründen rügt das Gericht die diskrete Behandlung eines Schreibens des türkischen Ministerpräsidenten an Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit dem offenbar der sogenannte "Flüchtlingsdeal" der EU mit der Türkei angebahnt worden war.

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