Brexit:Checkliste fürs No-Deal-Chaos

Brexit: Die EU-Spitzen um Jean-Claude Juncker besprechen, was im Fall eines ungeregelten Brexits zu tun ist - so auch am Mittwoch in Brüssel.

Die EU-Spitzen um Jean-Claude Juncker besprechen, was im Fall eines ungeregelten Brexits zu tun ist - so auch am Mittwoch in Brüssel.

(Foto: AP)
  • Trotz der Einigung im britischen Parlament ist ein No-Deal-Brexit noch lange nicht vom Tisch.
  • Die Spitzen der EU bereiten sich derzeit auch auf dieses Chaos-Szenario vor. Sie gehen etwa von 1,2 Millionen bedrohten Jobs in den verbleibenden Mitgliedsländern aus.
  • Am schlimmsten wären einer Studie zufolge Irland, Malta und Belgien betroffen.

Von Björn Finke, Brüssel

Der Mittwoch war Brexit-Tag - auch in Brüssel. Die EU-Kommissare trafen sich zu ihrer wöchentlichen Sitzung, und diesmal brachten Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sie auf den neuesten Stand in Sachen Brexit. Allerdings unterschied sich der nicht sehr vom alten: Die britische Regierung hat versprochen, Ideen für eine Alternative zum Backstop für Nordirland vorzuschlagen, jener Klausel im Austrittsvertrag, die Premier Boris Johnson unbedingt gestrichen sehen will. Doch bisher ist aus London nichts gekommen.

Die Zeit bis zum Austrittstermin 31. Oktober wird knapp, und der Frust unter den verbleibenden Mitgliedstaaten wachse, sagt ein EU-Diplomat: "Wenn Großbritannien ernsthafte Verhandlungen führen will, muss sich die Regierung beeilen." Chefunterhändler Barnier sagte beim Treffen der Kommissare, es bleibe "in der Verantwortung der Briten, einen konkreten Vorschlag" zu machen - die EU will sich also nicht bewegen und hält am Backstop fest, jener Auffanglösung, die Zollkontrollen an der Grenze zwischen dem Mitglied Irland und dem britischen Nordirland verhindern soll.

In der EU sind nicht weniger als 1,2 Million Jobs bedroht

Jeder Tag ohne Fortschritt steigert die Gefahr eines chaotischen Austritts mit üblen Folgen für die Wirtschaft im Vereinigten Königreich, aber auch im Rest Europas. Insgesamt seien in den verbleibenden Staaten 1,2 Millionen Jobs bedroht, heißt es in einer Studie, welche die belgische Universität Löwen im Auftrag der Regierung erstellt hat. Am schlimmsten wären Irland, Malta und Belgien betroffen. Denn wird der Austrittsvertrag nicht in seinem Sinne geändert, will Johnson das Land ohne gültiges Abkommen aus der EU führen. Dann fällt die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich wenig ändern soll. Stattdessen würden sofort Zölle und Zollkontrollen eingeführt.

Häfen wie Calais und Dover müssten auf einmal als Zollgrenze zwischen der EU und der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt dienen; es drohen Staus und Chaos, die stete Versorgung von Supermärkten und Fabriken im Königreich wäre gefährdet. Doch viele Branchen und Regionen auf dem europäischen Festland würden ebenfalls leiden. Die EU hat deshalb ihre Vorbereitungen für solch einen ungeregelten Austritt verstärkt. Am Mittwoch präsentierte die Kommission eine Checkliste für Unternehmen, mit der Manager prüfen können, ob sie an alles gedacht haben. Außerdem schlug die Kommission den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament vor, Übergangsregeln bis Mitte kommenden Jahres zu verlängern.

Diese Regelungen garantieren, dass Fluggesellschaften, Spediteure und Busbetreiber aus dem Königreich weiter in der EU aktiv sein dürfen, sofern die Briten europäischen Firmen das Gleiche gewähren. Reisende müssen also nicht befürchten, dass ihr Flieger bei einem ungeordneten Brexit im November nicht mehr von London gen Frankfurt abheben darf.

Zudem will die Kommission mehr Hilfsgelder ausschütten, wenn ein Chaos-Brexit in Regionen oder Branchen zu Entlassungen führt und Regierungen finanziell belastet. Die Behörde schlägt vor, die Verwendungsmöglichkeiten existierender Hilfstöpfe auszuweiten. So hat die EU 2002 einen Solidaritätsfonds gegründet, der Mitgliedern bei Naturkatastrophen Unterstützung zukommen lässt, etwa bei schlimmen Erdbeben und Waldbränden. In der Vorlage der Kommission, die der SZ vorliegt, heißt es nun, dass ein ungeregelter Austritt für die Staatshaushalte mancher Länder "ein großes Desaster" darstellen könne. Der Fonds solle dann auf Antrag der Regierungen Hilfe leisten können: der Brexit als Erdbeben für die Finanzen.

Am heikelsten wäre ein ungeregelter Austritt sicher für Irland

In diesem und dem kommenden Jahr stehen im Fonds jeweils 592 Millionen Euro bereit. Kommissionsbeamte betonen aber, dass nicht alles für Brexit-Folgen ausgeschüttet werden könne - ansonsten bliebe nichts für Naturkatastrophen übrig. Ein weiterer Geldtopf, der EU-Globalisierungsfonds, soll ebenfalls Brexit-Opfer unterstützen. Bisher zahlt der Fonds nur, wenn globale Krisen oder die Globalisierung zu Massenentlassungen führen. In der Vorlage der Kommission heißt es, ein ungeordneter Austritt sei als weiterer Anlass in die Liste aufzunehmen. Dieser Fonds verfügt über gut 150 Millionen Euro jährlich. Solche Summen reichen allerdings nicht ansatzweise aus, um den Schaden einer Chaostrennung auszugleichen - das ist auch der Kommission bewusst. Es sei immerhin "ein Beitrag", sagt ein Beamter.

Am heikelsten wäre ein ungeregelter Austritt für die Republik Irland. Die Regierung in Dublin will, dass die Grenze zu Nordirland unsichtbar bleibt. Die Backstop-Klausel, die Premier Johnson und die Anhänger eines harten Brexit in London so erzürnt, soll dies garantieren. Ihr zufolge soll das Königreich in einer Zollunion mit der EU bleiben, und Nordirland soll sich weiter an viele Brüsseler Regeln halten, wenn Zollkontrollen anders nicht abzuwenden sind. Ironischerweise könnte genau dieser Backstop nun einen Chaos-Brexit provozieren - und Kontrollen an der Grenze nötig machen. Schließlich fielen dann Zölle an, etwa von 35 Prozent auf Milchprodukte oder zehn Prozent auf Autos. Die Kommission betont, sie suche mit Dublin nach Lösungen, um bei einem ungeregelten Brexit eine harte Grenze zu vermeiden. Diese Suche wird nicht leicht - und die Zeit ist knapp.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusBrexit
:Die Last des weißen Mannes

So furchtbar Tory-Reaktionär Jacob Rees-Mogg ist, so wunderbar ist das britische Unterhaus. Betrachtung einer Provokation, hinter der sehr viel mehr steckt als Arroganz.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: