EU berät in Brüssel über ihre Zukunft:Kommt Zeit, kommt Rat

Bankenviertel in Frankfurt

Bankenviertel in Frankfurt: Alle großen und alle staatlich gestützten Banken der Euro-Zone werden künftigt von der EZB kontrolliert.

(Foto: dapd)

Europa soll durch einen Umbau grundlegend verstärkt werden. In der Frage der Bankenaufsicht ist der Durchbruch beim Brüsseler Gipfel gelungen. Doch vor dem großen Wurf einer dauerhaften Reform der Wirtschafts- und Währungsunion scheuen die EU-Staaten noch zurück - zuerst müssen wichtige Grundfragen geklärt werden.

Von Martin Winter, Brüssel

Selten ist die Luft aus einem europäischen Ballon so schnell herausgelassen worden. Als sich die Europaminister am Dienstag trafen, um den EU-Gipfel vorzubereiten, der dann am Donnerstagabend begann, war schnell klar: So geht das alles nicht.

Ein großer Reformgipfel sollte er werden, wenn es nach dem Willen von Kommissionspräsident José Manuel Barroso und seinem Gegenstück beim Europäischen Rat, Herman Van Rompuy, gegangen wäre. Der Gipfel sollte die EU schon jetzt auf feste Änderungen und einen verbindlichen Zeitplan für den Umbau ihrer Wirtschafts- und Währungsunion festlegen. Aber in die Annalen der Europäischen Union wird er wohl nur wegen der Geschwindigkeit eingehen, mit der Van Rompuy seine Gipfelvorlage für die Staats- und Regierungschefs 24 Stunden vor deren Ankunft in Brüssel weitgehend wieder einkassierte.

Nun gehört es seit dem Beginn der Euro-Krise zum guten Ton, in solchen Fällen klagend auf die Deutschen zu zeigen. Erst rede diese Merkel von Reformen und sogar von Vertragsänderungen, und dann wolle Berlin das alles auf die lange Bank schieben. War es nicht die Kanzlerin gewesen, die die "Fiskalkapazität", eine Art Euro-Notgroschen, vorgeschlagen hatte? Und jetzt will sie nichts mehr davon wissen! Und muss man nicht schnell handeln, damit die Finanzmärkte wieder Vertrauen in die EU fassen? Diese grundlegenden Reformen auf die lange Bank zu schieben, könnte also sehr gefährlich sein.

Gefühl, dass "da vieles noch sehr unausgegoren ist"

Da ist es dann schnell wieder, dieses Bild von der Deutschen, die durch Zögern und Zaudern alle anderen in Gefahr bringt. Und dass sie mit den Franzosen nicht könne, belaste die EU zusätzlich. Wer sich aber jenseits dieses europäischen Stammtischgeschwätzes umschaut und sich den Mühen einer gewissen analytischen Tiefe hingibt, der stößt schnell auf Folgendes: Zum einen zeigte sich beim Treffen der Europaminister, dass die Ideen Van Rompuys im Kreis der Mitgliedsländer auf sehr breiten Widerstand stoßen.

Weil Barroso und Van Rompuy Merkels Fiskalkapazität von einer zeitlich und finanziell begrenzten Notfalleinrichtung zu einem Euro-Haushalt auf Dauer machen wollten, der Geld von den wirtschaftlich Erfolgreichen an die wirtschaftlich Schwachen transferiert, mochten viele Euro-Staaten dieser Idee nicht mehr folgen. Und auch viele der Nicht-Euro-Staaten waren dagegen, müssen sie doch befürchten, dass das Geld für die Fiskalkapazität dem allgemeinen EU-Haushalt abgehen könnte, der vor allem ihnen in starkem Maße zugutekommt.

Zum anderen hatte viele Regierungen, wie Diplomaten berichten, bei der Lektüre der Vorschläge aus Brüssel das Gefühl beschlichen, dass "da vieles noch sehr unausgegoren ist". Zum Beispiel die Idee, dass zwischen den Mitgliedsländern und der EU jeweils individuelle "Verträge über Reformen" geschlossen werden. Die sollen dabei helfen, die Wettbewerbsfähigkeit der Länder zu erhöhen. Nachdem man mehr als ein Jahrzehnt erfolglos auf rein freiwillige Reformen gesetzt hatte, könnten solche Verträge ein Hebel sein, den notwendigen Umbau etwa des Arbeitsmarktes in einigen EU-Ländern anzustoßen und zu begleiten.

Berlin steht dieser Idee anders als Paris durchaus mit Sympathie gegenüber. Aber im Kanzleramt heißt es auch, dass man erst einmal genau schauen müsse, wie solche Verträge überhaupt gestaltet werden könnten, bevor man beschließt, sich dieses Instrument zuzulegen. Damit hingen schließlich komplizierte rechtliche, politische und ökonomische Fragen zusammen, deren Implikationen heute noch keiner wirklich überschaue.

Nationale Souveränität und europäische Gemeinsamkeit

Darüber, dass die EU nun erst einmal klären soll, worauf sie sich einlässt, wird in den Brüsseler Fluren jetzt auch gelegentlich gemault. Hat nicht Barroso schon vor einiger Zeit seine "Blaupause" für die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt? Und hat Van Rompuy seine Ideen nicht nur mit Barroso sowie den Präsidenten der Europäischen Zentralbank und der Euro-Gruppe abgestimmt, sondern auch über Wochen mit den Mitgliedsländern darüber geredet? Wohl wahr, sagt ein hoher Diplomat. Aber einerseits habe man bislang alle Hände voll zu tun gehabt mit der Bankenaufsicht und der Rettung Griechenlands.

Andererseits sei es aber so, dass weder Van Rompuys Vorschläge noch Barrosos "Vision", der der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den "Charme eines Kalenders" attestierte, Aufschluss zu all diesen Fragen geben würden. Erst müsse man sich der "Schlüsselfrage" widmen, wie viel europäischer Koordinierung es bedarf, um die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft zu verbessern. Erst dann könne man schauen, zu was man bereit ist und wie man das organisiert.

Und diese Debatte kann lange dauern. Denn wenn die Wirtschafts- und Währungsunion grundlegend durch Umbau verstärkt und die Mitgliedsländer dauerhaft wirtschafts- und fiskalpolitisch stärker an die Kandare genommen werden sollen, dann stellt sich unvermeidlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationaler Souveränität und europäischer Gemeinsamkeit. Das kann schwerwiegende institutionelle Folgen haben: So müssten etwa die jeweiligen nationalen Parlamente eine Rolle auf europäischer Ebene bekommen, wenn Reformverträge zwischen der EU und den Ländern aufgelegt werden. Schließlich sind es diese Parlamente, die die Reformen dann beschließen und politisch durchsetzen müssen.

Angesichts all dieser Fragen hat Van Rompuy die "Fiskalkapazität" fürs Erste fallengelassen, und die Idee der "Verträge" will er jetzt erst einmal von allen Seiten prüfen. So wird der Gipfel nur beschließen, dass man sich umfassend mit all diesen Problemen beschäftigen und dann vielleicht im nächsten Jahr Beschlüsse fassen werde. Dem in der EU so wichtigen deutsch-französische Paar verschafft das so nebenbei mehr Zeit, einen Modus Vivendi zwischen Angela Merkel und François Hollande zu finden. Letzterer liegt nämlich zurzeit noch sowohl bei der Fiskalkapazität (in Van Rompuys Fassung) sowie in der Frage der Reformverträge auf Kollisionskurs zur Kanzlerin.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: