EU-Beitritt der Türkei:Rühe: Das darf keine populistische Schlacht werden

Ende des Jahres wird entschieden, ob mit der Türkei Verhandlungen über eine Aufnahme in die EU begonnen werden. Der CDU-Außenpolitiker Volker Rühe spricht sich im SZ-Interview dafür aus - und stellt sich in Gegensatz zur herrschenden Strömung in der CDU/CSU.

Interview: Nico Fried und Susanne Höll

SZ: Herr Rühe, CDU und CSU wollen keine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU mehr, sondern eine privilegierte Partnerschaft. Wollen Sie das auch?

Rühe: Nein. Das ist eine unrealistische Position. Eine besondere Partnerschaft steht doch überhaupt nicht auf der Tagesordnung.

Die EU will im Herbst entscheiden, ob man im Mai 2005 mit der Türkei Verhandlungen über einen Beitritt beginnt. Es geht jetzt um Verhandlungen, noch nicht um eine Mitgliedschaft.

SZ: Wann könnte sich die Frage einer Mitgliedschaft denn stellen?

Rühe: In zwölf bis 15 Jahren vielleicht. Und auf dem Weg dorthin könnte allenfalls die Türkei eine besondere Partnerschaft ins Gespräch bringen, wenn sie in Verhandlungen feststellt, dass ihr Weg nach Europa lang und schwierig wird.

SZ: Was muss sich in der Türkei vor einem Beitritt ändern?

Rühe: Vieles, sehr vieles. Etwa das wirtschaftliche Gefälle zwischen dem Osten und Westen des Landes. Und bei meinem Besuch in der Türkei ist mir aufgefallen: Dort wird noch sehr nationalistisch gedacht.

Studenten trugen in Ankara eine fünf Meter lange Fahne durch die Straßen. Eine Annäherung an Europa bedeutet Umdenken in der Türkei, auch politisch.

SZ: Warum dann nicht eine Zwischenstufe über eine besondere Partnerschaft?

Rühe: Wer der Türkei jetzt Beitrittsverhandlungen verweigern will, stoppt den Reformprozess in diesem Land. Niemand soll so tun, als entscheide die EU alsbald über einen Beitritt.

SZ: Die EU hat noch nicht einmal die jüngste Erweiterung verdaut und Sie denken schon an die Türkei?

Rühe: Die Union, die eine Türkei aufnehmen würde, wäre größer als die, die wir jetzt haben. Sie hätte dann vermutlich 30 Mitglieder.

Das wird aber eine andere Union sein, eine Union mit mehreren Geschwindigkeiten, in unterschiedlichen Bereichen. Da wäre Platz.

SZ: Zurück zur CDU/CSU. Ist deren Position in der EU mehrheitsfähig?

Rühe: Nein. Und wenn die Union im Bund wieder regiert, gilt auch für sie die Zusage an die Türkei. Deshalb sollten wir uns auch in der Opposition nicht dagegen stellen.

Es ist nicht klug, wenn die CDU den Eindruck erweckt, sie rücke von Zusagen ab, die einst auch ein Bundeskanzler Helmut Kohl abgegeben hat.

SZ: Wie erklärt sich der Meinungswechsel der CDU/CSU in Sachen Türkei?

Rühe: Es gibt die Sorge um die Verwirklichung der politischen Union in Europa. Die muss man ernst nehmen. Aber die Union wird weiter wachsen.

Und eine moderne Türkei als Mitglied wäre ein Gewinn. Wenn Europa es schaffen sollte, die Türkei langfristig zu stabilisieren, Islam und Demokratie in Einklang zu bringen, wäre das ein richtiges und wichtiges Signal hin zum Nahen und Mittleren Osten.

SZ: Was ist mit dem Argument, nach einem Beitritt grenze die EU an unsichere Länder wie Syrien und Irak?

Rühe: Das ist Populismus. Diese Grenzen hat die Türkei immer gehabt, auch unter der Regierung Kohl.

SZ: Manche befürchten einen Zustrom türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland, haben Angst um ihre Jobs.

Rühe: Ich sage das Gegenteil voraus. Wenn sich die Türkei verändert, werden die Menschen in ihrem Land bleiben.

Wenn die Zukunft nach Anatolien kommt, kommen die Anatolier künftig nicht nach Deutschland. Niemand verlässt gern seine Heimat. Und im Falle eines Beitritts würde es lange Fristen für eine Freizügigkeit geben.

SZ: Warum hat die CDU/CSU denn dann ihre Türkei-Position gewechselt?

Rühe: Es gibt natürlich Ängste. Deshalb muss man die Menschen aufklären.

Ängste zu schüren, wäre falsch. Mein Rat ist deshalb: Wir sollten bei unserem früheren Kurs bleiben. Sonst isolieren wir uns international und brüskieren die Türkei.

SZ: Aber haben nicht diejenigen Recht, die sagen, die EU übernimmt sich mit immer neuen Mitgliedern? Es wird erweitert, nicht aber vertieft.

Rühe: Die EU muss sicher vertieft werden. Aber es werden sich ganz unterschiedliche Gruppen entwickeln.

Es wird einen Kern der Euro-Länder geben, andere werden in der Schengen-Gruppe sein, wieder andere werden in der Verteidigungspolitik kooperieren. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten eben.

SZ: Nun will die CDU/CSU im Europawahlkampf die Türkei zum Thema machen. Wollen Sie das auch?

Rühe: Das darf keinesfalls eine populistische Schlacht werden. Das wäre ganz schlecht für unser Verhältnis zu den Türken und Türkischstämmigen in Deutschland.

Ich halte ohnehin nichts von der These, dass letztere nur SPD wählen. Viele interessieren sich für die CDU.

SZ: Sie raten also vom Wahlkampfthema Türkei ab?

Rühe: Sachlich kann man über alles reden. Aber dann muss man auch über die Chancen sprechen. Man muss sagen, dass sich die Türkei vor einem Beitritt noch dramatisch verändern müsste.

Man darf nicht so tun, als wäre der Beginn der Verhandlungen schon der Beginn der Mitgliedschaft.

SZ: Was wäre denn aus Ihrer Sicht die größte Chance?

Rühe: Es wäre eine weltpolitische Leistung der europäischen Union, wenn sie die Türkei einbindet.

Es wäre der Brückenbau hin zum Nahen und Mittleren Osten, eine euro-islamische Brücke, eine zwischen Moderne und Tradition. Die Türkei wäre ein Transmissionsriemen für die Stabilisierung dieser Nachbarregion.

SZ: Wo endet Europa, wenn die Türkei mit ihrem großen asiatischen Teil EU-Mitglied wird. Kommen dann auch Russland und Tunesien?

Rühe: Nein. Es gibt für diese Länder keine Zusagen der EU zu Beitrittsperspektiven.

Die Grenzen Europas sind nicht geografisch zu definieren, sondern politisch. Und kulturell. Eine Wiege des Christentums stand in Kleinasien. Und das Christentum gehört bekanntlich zu Europa.

SZ: Und auch zur CDU/CSU.

Rühe: Ja, natürlich.

SZ: Die Türkei wäre bei einem Beitritt das zweitgrößte Land der EU und brächte die Kräftebalance und die Finanzierung ziemlich durcheinander.

Rühe: Es gibt immer ein zweitgrößtes Land. Und was die Finanzen betrifft, wird jeder wissen müssen: So wie jetzt werden in 15 Jahren die EU-Gelder nicht mehr verteilt.

Der Süden und der Westen müssen auf Dauer abgeben.

SZ: Mag sein. Dennoch bekommt man das Gefühl, die Gemeinschaft übernimmt sich, wird zu groß.

Rühe: Europa wird nicht zu groß. Es wächst. Manche wünschen sich den exklusiven Klub des Europas der Sechs zurück, nennen das heute Kerneuropa und wollen Schutzzäune um die EU ziehen.

Aber Instabilität kann man nicht aussperren.

SZ: Sie klingen fast so, als sei ein EU-Beitritt für Sie schon fast beschlossene Sache.

Rühe: Nein. Die Türkei wird vor einem Beitritt die Kriterien erfüllen müssen, die für alle anderen Beitrittskandidaten auch galten und gelten.

Rabatt wird es keinesfalls geben. Und ich sage: Für die Türkei wird das noch ein sehr langer Weg, mit Veränderungen, die denen vergleichbar sind, wie sie Atatürk vor 80 Jahren gebracht hat.

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