EU-Beitritt der Türkei:Darum ist Erdoğan das Parlamentsvotum egal

Recep Tayyip Erdogan

Besorgt sieht anders aus. Für Erdogan ist die EU-Abstimmung "ohne Bedeutung". (Archivbild)

(Foto: picture alliance / AP Photo)

Die Europaabgeordneten fordern, die Beitrittsgespräche mit der Türkei auszusetzen. Einen Verhandlungsstopp wird es aber nicht geben. Das passt in eine lange Tradition.

Analyse von Deniz Aykanat

Nun ist also auch dem Europäischen Parlament der Geduldsfaden gerissen. Die Abgeordneten in Straßburg, die einem EU-Beitritt der Türkei bislang stets wohlwollend gegenüberstanden, fordern, die Gespräche auf Eis zu legen. Das Vorgehen Ankaras seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli sei "unverhältnismäßig", heißt es in einer mit breiter Mehrheit verabschiedeten Resolution. Und sollte die Türkei tatsächlich die Todesstrafe wiedereinführen, dann sollen die Beitrittsverhandlungen nach dem Willen der Parlamentarier auch formell ausgesetzt werden.

Die Entscheidung wirkt auf den ersten Blick wie ein starkes Signal der EU in Richtung eines Staates, der die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit seit Monaten immer schamloser mit Füßen tritt. Doch das ist sie nicht. Vielmehr fügt sie sich nahtlos ein in die Türkei-Politik der EU der vergangenen Jahre, ja Jahrzehnte. Und die ist geprägt von einem Hin und Her, das die demokratischen Kräfte in der Türkei immer weiter von Europa entfremdet hat und Präsident Recep Tayyip Erdoğan heute die Mittel an die Hand gibt, innenpolitisch und außenpolitisch daraus Kapital zu schlagen.

Die Resolution des Europäischen Parlaments ist nicht bindend. Und selbst wenn die EU-Kommission sich der Forderung anschließt, ist sie nicht in Kraft. Beitrittsgespräche können nur die EU-Mitgliedstaaten beenden. 16 der 28 nationalen Regierungen müssten einem entsprechenden Antrag zustimmen und zudem 65 Prozent der EU-Bürger vertreten. Eine solche Mehrheit ist nicht wahrscheinlich. Eine gemeinsame Linie der EU lässt sich nicht erkennen.

Die EU hält die Türkei seit Jahren hin

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich, seit Erdoğans "Säuberungswelle" rollt, nie klar dafür ausgesprochen, die Verhandlungen abzubrechen. Ganz anders zum Beispiel Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, der ein sofortiges Ende der Verhandlungen fordert. Großbritanniens Außenminister Boris Johnson hingegen verkündete bei einem Besuch in Ankara, er könne der türkischen Regierung beim EU-Beitritt sogar helfen. Monate zuvor hatte er während seiner Brexit-Kampagne noch gegen die Türkei gewettert.

Diese Reaktionen stehen stellvertretend für den Kurs, den die EU der Türkei gegenüber seit jeher fährt: einen Kurs der Hinhaltetaktik und Widersprüchlichkeit. Die einen wollen den geopolitisch wichtigen Staat bei der Stange halten, die anderen das muslimische Land auf keinen Fall zu nah an die EU heranlassen.

Wenn Erdoğan nun verkündet, der Parlamentsbeschluss zu den Beitrittsgesprächen sei "wertlos", dann ist das eine "Zumutung", wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn schimpft. Es entspricht aber zugleich der Erfahrung aus den vergangenen Jahren. Der EU-Kurs gegenüber der Türkei hat bei allem Hin und Her eines ganz deutlich gezeigt: Es spielte für einen möglichen Beitritt letztlich nie eine Rolle, welche und wie viele Reformen die Türkei umsetzt und welche nicht. Wichtiger war, ob in Deutschland gerade Wahlen anstanden oder ob man die Türkei für das Steuern von Flüchtlingsströmen brauchte.

Merkel steht für eine EU, die sich in Sachen Türkei nicht festlegen will

In einer Person vereint diesen Schlingerkurs die deutsche Kanzlerin. Das konnte man zum Beispiel 2010 beobachten, als Merkel und Erdoğan noch einträchtig lächelnd beim Staatsbesuch in Ankara vor die Kameras traten. Sie sehe für die Türkei lediglich eine "privilegierte Partnerschaft" mit der EU vor, sagte Merkel damals. Und versicherte im selben Atemzug, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei natürlich fortgesetzt würden.

Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, hatte entscheidende Reformen zur Entmachtung der türkischen Armee auf den Weg gebracht, die EU galt als demokratisches Vorbild, dem die Türkei nacheiferte, und die deutsch-türkischen Beziehungen konnte man im Vergleich zu heute als ausgezeichnet beschreiben. Und vor allem: Sowohl Erdoğan als auch die Mehrheit des türkischen Volkes wollten einen EU-Beitritt. Eine klare Beitrittsperspektive? Gab es von Merkel trotzdem nicht. "Man hat uns an den Toren der EU 50 Jahre lang warten lassen", sagte Erdoğan einige Monate nach Merkels Besuch. Als barsch und undiplomatisch wurde ihm seine Wortwahl damals ausgelegt.

Fünf Jahre später fädelte Kanzlerin Merkel einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei ein. Eine der Hauptbedingungen: Die seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 wieder einmal auf Eis liegenden Beitrittsgespräche werden wiederaufgenommen. Das war zwar vor dem Putschversuch im Juli. Doch schon damals ging die türkische Führung mit großer Härte gegen ihre Kritiker vor, der Friedensprozess mit den Kurden lag in Scherben.

Der Wind in der Türkei hat sich längst gedreht

Merkel steht für eine EU, die sich in Sachen Türkei nie festlegen wollte. Als die Türkei sich in der frühen Erdoğan-Ära auf einem Reformkurs in Richtung EU befand, vermied sie ein klares Bekenntnis. Und jetzt, da die Türkei sich mit voller Fahrt in Richtung Autokratie aufgemacht hat, scheut sie den klaren Bruch.

Die Türkei hat seit ihrer Gründung nach Orientierung gesucht. Aus Europa ist ihr stets Widersprüchlichkeit entgegengeschlagen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Was sich geändert hat: Die EU hat ihre Vorbildrolle eingebüßt, wegen der Flüchtlingskrise ist sie gegenüber der Türkei zum Bittsteller geworden. Nun werden der Union ihre missverständlichen Signale zum Verhängnis.

Der Wind in der Türkei hat sich längst gedreht, kaum einer wagt nach den Zurückweisungen der vergangenen Jahre noch ernsthaft, an eine EU-Mitgliedschaft zu glauben. Diese Gefühle bedient Erdoğan, indem er sich mit markigen Worten an seine Wählerschaft wendet. Außenpolitisch nützt es ihm, dass die Türkei weiter im Gespräch bleibt. Dank der gewachsenen geopolitischen Bedeutung seines Landes muss Erdoğan vorerst keine reellen Folgen durch die Straßburger Resolution fürchten.

Die EU ist der Türkei aber auch nicht hilflos ausgeliefert

Die Schwierigkeiten in der Türkei-Politik sind übrigens kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines tiefer liegenden Problems der EU. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu finden, war schon immer ihre große Baustelle. Im Inneren gefährdet das Zaudern die Glaubwürdigkeit der Union. Man denke nur an das kollektive Kopfschütteln, das die lange Tatenlosigkeit angesichts der Flüchtlingskrise ausgelöst hat. Im Äußeren belastet es die Beziehungen zu wichtigen Partnern. Davon könnte sicher die kanadische Regierung berichten, die kürzlich das Freihandelsabkommen Ceta wegen eines südbelgischen Regionalparlaments überraschend am Abgrund sah.

Die Talfahrt der EU-Türkei-Beziehungen hat sich über viele Jahre hinweg abgezeichnet und nahm in den vergangenen beiden Jahren noch einmal rasant an Tempo auf. Sich in diesem Fall zu einigen - ob nun für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen oder dagegen - wäre ein echter Schlusspunkt: unter eine Politik, der es an Geradlinigkeit und Konzept fehlt.

Die geopolitischen Vorteile der Türkei sind enorm. Die Türkei braucht aber auch die EU. Ob das Land nun privilegierter Partner ist oder Vollmitglied: Allein wirtschaftlich sind die beiden Akteure aufs Engste miteinander verbunden. Die EU ist der Türkei deshalb nicht hilflos ausgeliefert. Sie könnte Einfluss nehmen auf das Land, aber dazu müsste sie zu einer klaren Linie finden.

Wenn die Resolution des Parlaments nun aber ohne Konsequenzen bleibt, wenn also Kommission und Mitgliedstaaten nicht mitziehen, dann hilft das weder dem türkischen Volk noch der EU, sondern nur einem: Erdoğan.

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