Die EU verschiebt den Klimaschutz, um der kriselnden Autoindustrie zu helfen. Die europäischen Konzerne müssen erst einmal keine Strafen zahlen, wenn sie ihre für das Jahr 2025 festgeschriebenen Ziele zur Verminderung von CO₂-Emissionen bei Neuwagen in Europa – die sogenannten Flottengrenzwerte – nicht erreichen. Vielmehr haben sie die Gelegenheit, dieses Manko auszugleichen, indem sie ihre Ziele für 2026 und 2027 übererfüllen. Dahinter steckt die Hoffnung, der Absatz von EU-Autos werde binnen drei Jahren so massiv steigen, dass sich Strafzahlungen vermeiden lassen. Vor allem VW wäre wohl davon betroffen.
In einem für die EU ungewöhnlichen Tempo ging die Gesetzesänderung durch die Institutionen. Die Europäische Volkspartei (EVP), der CDU und CSU im Europaparlament angehören, hatte die Debatte darüber im vergangenen Herbst angestoßen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eröffnete im Januar einen „Strategischen Dialog“ mit der Autoindustrie und brachte als Konsequenz daraus Anfang April die Reform der Flottengrenzwerte auf den Weg. Das Europaparlament stimmte am Donnerstag im Dringlichkeitsverfahren zu. Die 27 Mitgliedsländer hatten sich schon am Mittwoch darüber verständigt, ihre finale Zustimmung gilt jetzt nur noch als Formalie.
Die Grünen leisteten vergeblich Widerstand
Jens Gieseke (CDU), der verkehrspolitische Sprecher der EVP im Europaparlament, reklamierte den Beschluss vom Donnerstag als Erfolg für seine Fraktion. „In einer Zeit von Werksschließungen, Gewinneinbrüchen und US-Autozöllen wären hohe Geldstrafen für die europäische Automobilindustrie fatal gewesen.“ Sein Fraktionskollege Peter Liese, Klimaexperte der EVP, trug die Entscheidung mit. Wichtig sei, dass die Klimaziele für die Autoindustrie als solche nicht angetastet würden. Der niedersächsische SPD-Abgeordnete Bernd Lange sprach von „sehr guten Nachrichten für VW“.
Die Reform wurde im Europaparlament im Wesentlichen von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen getragen. Die Grünen leisteten vergeblich Widerstand. Ihr Europaabgeordneter Michael Bloss kritisiert, damit werde erstmals die „Axt an den Grünen Deal gelegt“, also an das große Umwelt- und Klimaprogramm, das Ursula von der Leyen 2019 auf den Weg gebracht hatte. Die EVP lege es offensichtlich darauf an, demnächst auch das für 2035 beschlossene Aus für Neuwagen mit Verbrennungsmotor zu schleifen. Dieser „Kulturkampf“ gegen das E-Auto schade letztlich nur der europäischen Autoindustrie und ihren Beschäftigten, weil man den Anschluss an die chinesische Konkurrenz verliere.
Ursula von der Leyen hat angekündigt, sie werde Ende des Jahres einen Reformvorschlag vorlegen, der für mehr „Technologie-Offenheit“ in dem Gesetz zum Verbrenner-Aus sorgt. Bei ihrem strategischen Dialog mit der Autoindustrie hörte sie dazu widersprüchliche Stimmen. Es gibt etliche Konzerne, die sich von der EU eine ganz klare Festlegung auf die E-Mobilität wünschen.
Die Autobranche ist mit mehreren großen Baustellen gleichzeitig beschäftigt
Im Verkehrssektor gibt es bislang deutlich weniger Fortschritt beim Klimaschutz als in anderen Bereichen. Auf dem Weg zur Klimaneutralität sind die Flottengrenzwerte für die EU das wichtigste Instrument der Steuerung. Die Hersteller dürfen eine bestimmte durchschnittliche Menge an CO₂ pro Kilometer für ihre gesamte Fahrzeugflotte nicht überschreiten. Es handelt sich also nicht um Grenzwerte für einzelne Fahrzeuge. Die Vorgaben werden im Fünf-Jahres-Rhythmus verschärft und dann jährlich gemessen. Jeder Hersteller muss von 2025 an bis 2029 über alle verkauften Autos hinweg die CO₂-Emissionen um 15 Prozent im Vergleich zu 2021 senken. Die Strafe liegt bei 95 Euro pro Gramm CO₂ pro Kilometer, multipliziert mit der Anzahl an verkauften Autos in Europa.
Der Autoindustrie verschafft der EU-Beschluss eine kleine Erleichterung, ist sie doch aktuell mit mehreren großen Baustellen gleichzeitig beschäftigt. In China verlieren die deutschen Hersteller immer mehr an Boden, aber auch die US-Zölle bedrohen die Gewinne. Die Flottengrenzwerte waren ein weiteres Problem, das vor allem den Volkswagen-Konzern empfindlich hätte belasten können. Da die Wolfsburger im Vergleich zur Konkurrenz besonders viele Autos in Europa verkaufen und die Strafen pro Fahrzeug berechnet werden, schien VW von Strafen in Milliardenhöhe bedroht zu sein.
Anders sah die Lage bei BMW aus. Die Münchner verkaufen deutlich mehr Elektroautos als die Konkurrenz und hätten ihren Grenzwert ziemlich sicher geschafft. Mercedes hatte aus Angst vor Strafen bereits einen Vertrag mit dem chinesischen Autobauer Geely geschlossen. Hunderte Millionen zahlen die Schwaben dafür, dass sie die Elektroautos aus China in ihrer Bilanz anrechnen dürfen – und somit die Grenzwerte doch schaffen. Aus demselben Grund hatte sich der Stellantis-Konzern mit Tesla zusammengetan. Nun stellt sich heraus: Diese Millionenausgaben wären wohl gar nicht nötig gewesen, da akut keine Strafen drohen.
Rabattaktionen für E-Modelle
Die deutschen Konzerne bringen erst in den kommenden Jahren günstigere Elektroautos auf den Markt, allen voran VW. Doch es bleibt die Frage, ob die ganze Aufregung um die Flottengrenzwerte wirklich angebracht war. Schon in den ersten drei Monaten dieses Jahres haben die europäischen Autohersteller 45 Prozent mehr E-Autos verkauft als im Vorjahreszeitraum. VW etwa hat seinen Elektroautoabsatz in Europa im ersten Quartal auf rund 150 000 Fahrzeuge fast verdoppelt. Möglich machten das vor allem Rabattaktionen für E-Modelle.
Umweltorganisationen wie das „International Council on Clean Transportation“ oder „Transport & Environment“ wiesen immer wieder darauf hin, dass schon bei vergangenen Grenzwertverschärfungen die Hersteller am Ende doch in der Lage waren, die Ziele zu erreichen – auch wenn sie vorher das Gegenteil behauptet hatten.
Dennoch sieht der deutsche Verband der Automobilindustrie (VDA) in dem Aufschub einen ersten wichtigen Schritt. „Politisches Handeln bedeutet, nicht nur Ziele zu setzen, sondern auch deren Erreichung zu ermöglichen“, sagte Verbandspräsidentin Hildegard Müller der Deutschen Presse-Agentur.