Europäische Außenpolitik:Kaja Kallas, die Forsche

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Die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, will sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner von 27 Positionen offenbar nicht begnügen. (Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP)

Waffen für die Ukraine, Sanktionen gegen Russlandfreunde – die neue EU-Außenbeauftragte tritt in Brüssel zielstrebiger auf, als es manchem gefällt. Aber verlangen außenpolitisch extreme Zeiten nicht auch mehr Entschlossenheit?

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Jeder in Brüssel wusste, dass es passieren würde. Aber so schnell, das war dann doch überraschend. Am 1. Dezember 2024 hatte Kaja Kallas ihr neues Amt als Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik übernommen – und kaum zwei Wochen später konnte man unter Brüsseler Diplomaten schon das erste Gemurre über den Arbeitsstil der Estin hören. „Sie tritt sehr forsch auf“, kommentierte ein Regierungsvertreter Mitte Dezember. Aus dem Diplomatischen übersetzt bedeutet das: zu forsch.

Derartige Klagen waren, wie erwähnt, zu erwarten. Der Posten des EU-Außenbeauftragten ist so zugeschnitten, dass der Inhaber oder die Inhaberin fast zwangsläufig irgendwann mit einer oder mehreren der 27 europäischen Regierungen kollidiert. In der EU fallen Außen- und Sicherheitspolitik weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedsländer, und diese wachen eifersüchtig über ihre Souveränität. Formell darf der oder die „High Rep“, wie der Außenbeauftragte im EU-Jargon heißt, daher nur Dinge sagen und tun, denen alle Hauptstädte zugestimmt haben. Im politischen Alltag besteht seine oder ihre Aufgabe primär darin, Streitereien zu schlichten, Kompromisse auszuloten und darauf hinzuwirken, dass die 27 Mitgliedsländer einen Konsens finden.

Eine Art außenpolitische Pressesprecherin der EU, das ist ihr wohl zu wenig

Schon der Vorgänger von Kallas, der Spanier Josep Borrell, der oft eigene – und zuweilen eigenwillige – Ideen hatte, geriet immer wieder mit Regierungen aneinander. Und Kallas, so schildern es Leute, die sie kennen, habe erst recht nicht die Absicht, nur eine Art außenpolitische Pressesprecherin der EU zu sein. Vor allem, wenn es darum geht, der Ukraine zu helfen und Russland einzudämmen, will die Estin die europäische Politik mitbestimmen.

Wie das in der Praxis aussieht, konnte man in den ersten Dezemberwochen beobachten, als die EU nach einer Formel für den Umgang mit der neuen Regierung in Georgien suchte. Diese hatte das Land von einem europafreundlichen auf einen moskautreuen Kurs umgesteuert, was Zehntausende Bürger zu Protesten auf die Straßen trieb. Da die Regierung mit Gewalt gegen die Demonstranten vorging, verlangte Kallas, die Europäische Union solle – wie schon die USA – Mitglieder der Regierungspartei mit Strafmaßnahmen belegen.

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Beim Stichwort „Sanktionen“ werden die EU-Hauptstädte jedoch immer hellhörig. Solche Strafen müssen einstimmig von den Regierungen beschlossen werden, ihnen gehen langwierige Verhandlungen voraus, die Außenbeauftragte kann da allenfalls Vorschläge machen, aber nichts bestimmen. „Kallas hat plötzlich von Sanktionen geredet und jeder dachte – hoppla“, sagt ein Diplomat. „Sie hat vielleicht noch nicht verstanden, welche Rolle sie hier in Brüssel spielt.“

Das würde Kallas freilich vehement bestreiten. Die Estin sei offensichtlich „ein bisschen entschlossener und zielstrebiger“, sagt ein EU-Diplomat. Sie sieht ihre Rolle eher als Antreiberin, die eine Debatte lenkt und voranbringt, anstatt sie nur zu moderieren und den kleinsten gemeinsamen Nenner unter 27 Regierungen zu finden. „Zu fordernd?“, fragt der Diplomat. „Das ist genau der Punkt – die Zeiten sind herausfordernd, und es steht viel auf dem Spiel.“

Kallas’ Selbstverständnis hat viel mit dem Amt zu tun, das sie vor ihrem Wechsel nach Brüssel innehatte: Als ehemalige estnische Regierungschefin bringt sie ein anderes politisches Gewicht mit als Borrell oder andere frühere Außenbeauftragte, die allenfalls als Minister gedient hatten. Kallas hingegen kennt die Staats- und Regierungschefs der EU, sie saß jahrelang ebenbürtig mit ihnen bei Gipfeltreffen am Tisch. Und schon damals tat Kallas sich mit Initiativen hervor, die manchmal zwar nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen gut ankamen, dann aber oft in der einen oder anderen Form aufgegriffen und umgesetzt wurden. Die Idee, die EU solle für die Ukraine Artilleriegranaten kaufen, geht zum Beispiel ebenso auf Kallas zurück wie die Forderung, das im Westen eingefrorene russische Staatsvermögen zur Finanzierung von Ukraine-Hilfen zu nutzen.

„Das war mein erstes ungarisches Veto, aber es wird nicht mein letztes gewesen sein.“

Auch bei den Sanktionen gegen georgische Regierungsvertreter erreichte Kallas einen Teilerfolg. Zwar blockierten Ungarn und die Slowakei, Russlands beste Verbündete in der EU, eine Entscheidung über harte Strafen. Aber eine ausreichend große Mehrheit von Regierungen zeigte sich bereit, für georgische Diplomaten die Visafreiheit bei Reisen in die EU zu beenden. Aus der Sicht von Kallas war das immerhin ein Anfang. „Das war mein erstes ungarisches Veto, aber es wird nicht mein letztes gewesen sein“, sagte die Außenbeauftragte nach der Entscheidung – ein Hinweis darauf, dass es ihr nichts ausmacht, Regierungen in die Quere zu kommen und gegebenenfalls weniger als 100 Prozent zu erreichen.

Das ändert allerdings nichts daran, dass Kallas aufgrund der Hierarchien im europäischen Institutionengeflecht als Außenbeauftragte weniger einflussreich ist, als sie es als Regierungschefin war. Das Gremium, das sie leitet – der Rat der Außenministerinnen und Außenminister der EU, die sich alle paar Wochen in Brüssel treffen –, kann nur beschließen, was auch die Staats- und Regierungschefs abgesegnet haben. Die wenigsten Ministerinnen und Minister hätten daheim so viel politische Hausmacht, dass sie ihrem Premier eine Entscheidung aufzwingen könnten, sagt ein Brüsseler Diplomat. Das erklärte Ziel von Kallas, den Außenministerrat zu stärken, sodass dort nicht nur geredet, sondern tatsächlich über die EU-Außenpolitik entschieden wird, dürfte mithin nicht einfach zu erreichen sein.

Der Spielraum, in dem Kallas ihre selbstgewählte Rolle ausreizen kann, ist also begrenzt. Die Balance zwischen Fordern und Bekommen, zwischen Führung und Gefolgschaft, zwischen Kompromissen, die gerade noch ein Sieg oder schon eine Niederlage sind, ist in Brüssel stets sensibel. Zwar glauben manche Beobachter, dass Kallas den Machtbonus der früheren Regierungschefin zumindest teilweise ins neue Amt mitnehmen kann. Das könnte sie zu einer außergewöhnlich starken Außenbeauftragten machen. Sicher ist das aber nicht.

Ein unschönes Beispiel zeigt, was geschehen kann, wenn ein High Rep seine Grenzen zu oft übertritt: Auch Josep Borrell wollte als europäischer Außenbeauftragter europäische Außenpolitik machen. Zum Ende seiner Amtszeit wurde „Pepe“, wie man ihn heimlich nannte, von den europäischen Regierungen kaum noch ernst genommen.

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