Europäische Union:Kann Olaf Scholz die EU revolutionieren?

Europäische Union: Im Kreis der Mächtigen herrscht zuweilen Uneinigkeit: Olaf Scholz (2. v. li.) mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (3. v. re.) und anderen Regierungschefs. (Archivbild von 2022)

Im Kreis der Mächtigen herrscht zuweilen Uneinigkeit: Olaf Scholz (2. v. li.) mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (3. v. re.) und anderen Regierungschefs. (Archivbild von 2022)

(Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP)

Der Bundeskanzler will, dass die EU-Staaten in ihrer gemeinsamen Außenpolitik nicht mehr alles einstimmig beschließen müssen. Das Vorhaben nimmt gerade Fahrt auf. Fragt sich nur, ob alle mitmachen.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Am 29. August 2022 erklärte Olaf Scholz in einer Rede in Prag seine Europapolitik. An diesem Dienstag, dem 9. Mai 2023, will der deutsche Kanzler wieder eine Rede halten, dieses Mal vor dem EU-Parlament in Straßburg. Und siehe - wäre Scholz jemand, der für sich in Anspruch nimmt, stets zur richtigen Zeit die richtige Idee zu haben, dann könnte er einen Erfolg vermelden: Acht Monate, nachdem er die EU aufgefordert hat, mehr Entscheidungen mit Mehrheit zu treffen, anstatt stets um Einstimmigkeit zu ringen, gewinnt der Vorschlag an Fahrt.

Ob diese Fahrt zu dem von der Bundesregierung gewünschten Ziel führen wird, ist zwar offen. Doch allein eine nennenswerte Debatte über institutionelle Reformen in der EU anzustoßen, ist keine Kleinigkeit. Das ist dem Kanzler wohl gelungen. "Es gibt einen gewissen Schwung in der Frage", sagt ein Diplomat, auch wenn der Weg noch weit und mit baldigen Ergebnissen nicht zu rechnen sei.

Die EU kennt, grob gesagt, zwei Entscheidungsmechanismen. Erstens: per "qualifizierter Mehrheit". Dabei müssen einem Vorschlag im Rat, in dem die 27 Mitgliedsländer vertreten sind, mindestens 55 Prozent der Staaten zustimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren. Zweitens: per Einstimmigkeit. Dabei müssen alle 27 EU-Regierungen einen Beschluss billigen - ein Verfahren, das einerseits sehr egalitär ist, andererseits aber auch jedem Land ein Vetorecht gibt und so Erpressungsversuchen und politischen Kuhhandeln aller Art die Türen öffnet.

In der Wirtschaftspolitik sind Mehrheitsentscheidungen längst möglich

Bisher werden alle außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der EU einstimmig getroffen. Wenn die Union also über neue Sanktionen gegen Russland verhandelt, so wie derzeit über das elfte Paket mit Strafmaßnahmen, dann müssen sich 27 Regierungen mit 27 unterschiedlichen Interessenlagen einigen. Manchmal klappt das gut und schnell. Doch das Verfahren ermöglicht es einzelnen Ländern, für sich Ausnahmen herauszuschlagen oder Entscheidungen zu blockieren, um in anderen Dossiers Zugeständnisse für sich zu erzwingen. Die ungarische Regierung beherrscht dieses Spiel besonders meisterhaft, ist aber längst nicht die einzige, die es in der EU spielt.

Scholz schlug in Prag daher vor, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik künftig mit qualifizierter Mehrheit Entscheidungen treffen zu können, wie es in der EU-Wirtschaftspolitik schon Realität ist. Das wäre zum einen möglich durch eine - höchst unwahrscheinliche - Änderung der EU-Verträge. Zum anderen könnten sich die Europäer in konkreten Einzelfällen darauf einigen, Mehrheitsbeschlüsse in der Außenpolitik zuzulassen. Allerdings müsste dieses Verfahren wiederum einstimmig gebilligt werden, was das grundsätzliche Problem nicht löst.

Scholz ist längst nicht der erste europäische Politiker, der mehr Mehrheitsentscheidungen anmahnt. Neu ist hingegen das politische Umfeld, in dem er seine Forderung platziert hat. Der Krieg in der Ukraine hat den Druck auf die EU massiv erhöht, effektiver und schneller zu werden, um auf die Krise zu reagieren. Und deswegen erfährt die Berliner Forderung inzwischen deutlich mehr Unterstützung in der EU als noch vor wenigen Jahren.

Scholz hat schon wichtige Verbündete gewonnen

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Freundesgruppe von EU-Ländern, die sich vor einigen Tagen öffentlich zu Scholz' Idee bekannt hat. Neben Deutschland gehören dazu Belgien, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Slowenien und Spanien.

Der Bundeskanzler kann damit nicht nur auf einige wichtige große EU-Länder zählen, die vergleichsweise wenig Angst haben müssen, im Rat überstimmt zu werden, weil sie eine Sperrminorität organisieren können. Sondern Scholz hat auch unter den kleinen Ländern - und sogar einem osteuropäischen - Verbündete gefunden, die bei Mehrheitsentscheidungen an Einfluss einbüßen würden. Das ist wichtig, denn das Prinzip der Einstimmigkeit ist für kleine EU-Staaten bisher die einzige Garantie, dass sie überhaupt ernsthaft konsultiert werden und mitreden können. Und gerade die Osteuropäer verteidigen ihre Souveränität in der EU besonders hartnäckig.

In Brüssel rechnet deswegen niemand damit, dass die EU in absehbarer Zeit zum Beispiel über Sanktionen mit Mehrheit entscheidet. "Auf kurze Sicht bin ich da nicht sehr optimistisch", sagt ein Diplomat aus einem Staat der Freundesgruppe. Dazu sei die Vetomacht für Regierungen wie die ungarische "zu bequem, um die eigenen Interessen zu schützen". Aber die Debatte darüber, wie die Union handlungsfähiger werden könne, müsse geführt werden, und dazu gehöre auch, über Beschlussmechanismen zu sprechen. Vielleicht braucht die EU ja nur noch zwei, drei weitere Scholz-Reden, bis sie sich ändert.

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