Süddeutsche Zeitung

EU:Der Vormarsch der Populisten fängt erst an

Vom Brexit zu den Erfolgen von Lega und Cinque Stelle in Italien: Können die Demagogen und großen Vereinfacher die EU am Ende zu Fall bringen?

Von Daniel Brössler, Brüssel

Vor etwas mehr als einem Jahr haben der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, und seine Leute einen Blick in die Zukunft gewagt. Sie veröffentlichten ein Weißbuch, das fünf Szenarien dafür enthält, wie sich die Europäische Union bis zum Jahr 2025 entwickelt haben könnte. Es reicht vom "Weiter wie bisher" bis zu "viel mehr gemeinsames Handeln". Ein Szenario hat Juncker weggelassen, dabei hatte er selbst es 2014 bei seinem Amtsantritt an die Wand gemalt. Damals sprach er von einer Kommission "der letzten Chance". Entweder man bringe, warnte er im EU-Parlament, "die europäischen Bürger näher an Europa, oder wir werden scheitern". Muss das sechste Szenario also lauten: Alles geht den Bach runter?

Es ist dies eine Frage, die weniger abwegig erscheint, seitdem in Italien die ultrarechte Lega und die populistische Bewegung Cinque Stelle kurz vor der Regierungsbildung standen. Verhindert wurde das von Staatspräsident Sergio Mattarella. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der Preis sind wohl baldige Neuwahlen, aus denen die Lega gestärkt hervorgehen könnte. Europas Populisten sind nicht generell erfolgreich, aber ihr Vormarsch auf die Zentren der Macht ist nicht beendet - anders als 2017 die Niederlage der Chefin des Front National, Marine Le Pen, bei der Präsidentenwahl in Frankreich und das relativ schwache Abschneiden von Geert Wilders bei der Parlamentswahl in den Niederlanden hoffen ließen. In Finnland und Österreich sind Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt. Und schon länger regieren in Polen und Ungarn nationalistische EU-Kritiker mit fast uneingeschränkter Macht. "Dieser Vertrag gilt auf unbegrenzte Zeit", steht in Artikel 53 des Vertrags von Lissabon. Unbegrenzt heißt nicht ewig. 2016 erzwangen Großbritanniens beharrliche EU-Feinde den Brexit. Könnte auch die ganze EU in Gefahr geraten?

Es gibt darauf verschiedene Antworten. Eine kann, wer will, aus der jüngsten Eurobarometer-Umfrage herauslesen. Da haben 60 Prozent der Befragten in allen 28 EU-Staaten gesagt, dass sie die Mitgliedschaft ihres Landes für eine gute Sache halten. Gar 67 Prozent sind der Meinung, ihr Land habe von der Mitgliedschaft profitiert. Dies markiert den höchsten Satz seit 1983 und bedeutet einen Anstieg von drei Prozentpunkten seit Herbst. Für die EU ist es nach Jahren zunächst der Finanz- und dann der Migrationskrise kein schlechter Wert, wenn zwei Drittel der Bürger von ihrem Nutzen überzeugt sind. Es scheint da wenig Anlass zu geben, die EU in existenzieller Gefahr zu sehen.

Allerdings trübt sich das Bild beim Blick auf die Einzelheiten. In Italien nennen nur 39 Prozent der Bürger die EU-Mitgliedschaft eine gute Sache, verglichen etwa mit 79 Prozent in Deutschland. Die wirtschaftlichen Härten der vergangenen Jahre und das Gefühl, mit dem Zustrom von Migranten alleingelassen zu werden, haben Spuren hinterlassen. Auch in anderen Staaten gibt es deutliche Ausreißer nach unten. Nur 34 Prozent der Tschechen, deren populistischer Präsident Miloš Zeman seit Jahren Stimmung gegen die EU macht, halten es für gut, dass ihr Land 2004 der Union beigetreten ist.

Die Europawahl in genau einem Jahr werde "ein Kampf sein, nicht nur zwischen den traditionellen Parteien der Rechten, der Linken und der Mitte, sondern auch zwischen denen, die an die Vorteile einer kontinuierlichen Zusammenarbeit und Integration auf EU-Ebene glauben, und denen, die das, was in den vergangenen 70 Jahren erreicht wurde, rückgängig machen würden", warnt EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Tatsächlich gehen Experten davon aus, dass sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten deutlich an Stimmen verlieren und ohne Hilfe der ebenfalls EU-freundlichen Liberalen keine Mehrheit zustande kriegen können. Trotz des Ausscheidens der Briten werden den EU-Skeptikern und EU-Feinden in den Fraktionen des rechten Lagers 137 der 751 Sitze vorhergesagt, nur 14 weniger als bisher.

So entscheidend die Europawahl für das Zusammenspiel der EU-Institutionen ist, die Lage in Italien hat in Erinnerung gerufen, dass es die Nationalstaaten sind, welche die EU näher an den Abgrund schubsen können. Allerdings gilt das in sehr unterschiedlichem Maße und ist abhängig von der Bedeutung der einzelnen Staaten. Die nationalistischen Regierungen in Polen und Ungarn haben die EU bisher nicht im Kern erschüttert. Eine Abkehr von der Union können sie sich weder wirtschaftlich noch politisch leisten. 88 Prozent der Polen sehen, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert, in Ungarn sind es 78 Prozent. Die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat in beiden Ländern entfaltet dennoch ihre Wirkung. Trotz aller Anstrengungen wirkt die EU bislang machtlos gegenüber der Abkehr von den in Artikel 2 des EU-Vertrags verankerten Werten.

Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass nicht die Populisten die Wirklichkeit in der EU verändern, sondern dass es umgekehrt geschieht. In Österreich hat die FPÖ, die im Parteiprogramm gegen die "Gleichschaltung der vielfältigen europäischen Sprachen und Kulturen durch erzwungenen Multikulturalismus, Globalisierung und Massenzuwanderung" wettert, für ihren Regierungseintritt pro-europäische Kreide gefressen. Ähnlich lief es in Helsinki mit den Wahren Finnen.

Italiens Präsident hat bisher den großen Knall vereitelt

Eines aber hat die EU bisher nicht aushalten müssen. In keinem wirtschaftlich bedeutsamen Kernland der Union hat eine populistische EU-skeptische Mehrheit die ganze Macht übernommen. In Frankreich unterlag Marine Le Pen 2017 mit 33,9 Prozent der Stimmen dem enthusiastischen Pro-Europäer Emmanuel Macron. In Italien kamen im März die populistische Bewegung Cinque Stelle und die ultrarechte Lega sogar auf zusammen 50 Prozent der Stimmen. Nur weil Präsident Mattarella die Regierungsbildung vereitelt hat, ist der EU das Experiment bislang erspart geblieben. Laut Regierungsprogramm wollten beide Parteien die Mitgliedschaft Italiens in EU und Euro zwar nicht infrage stellen, aber doch zentrale Übereinkünfte wie den Wachstumspakt angreifen. Offen bleibt nun erst einmal, ob sich die Radikalität wie einst beim Griechen Alexis Tsipras beim Regieren abgeschliffen hätte, oder ob Italien - nach dem Brexit drittgrößte Volkswirtschaft der EU - es auf den großen Knall hätte ankommen lassen. Das wäre dann das Szenario sechs, das Albtraum-Szenario.

Das Scheitern ihrer Regierungsbildung lasten Lega und Cinque Stelle nun angeblicher Einmischung aus der EU an. Der Vorwurf kommt immer wieder, und er ist nicht ganz unbegründet. Mit ihren souveränen Wahlentscheidungen bestimmen Bürger in den Nationalstaaten der EU nie nur über das Schicksal des eigenen Landes, sondern immer auch über Wohl und Wehe der ganzen EU. Was bei so einer Wahl herauskommt, ist keine innere Angelegenheit.

Denn die Union existiert nur, solange zwei Voraussetzungen erfüllt sind, über die nicht primär in Europawahlen, sondern in nationalen Abstimmungen entschieden wird. Zum einen müssen die Mitgliedstaaten bereit sein, sich weiter an die gemeinsam beschlossenen Regeln zu halten. Zum anderen muss die Bereitschaft zum Kompromiss erhalten bleiben. Ohne sie bräche die EU auseinander. Im EU-Vertrag ist die Möglichkeit des eigenen Endes nicht vorgesehen. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt.

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SZ vom 30.05.2018/lalse
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