Bootsunglück vor Crotone:Tödliche Grenzen der Solidarität

Bootsunglück vor Crotone: Ein Schiff mit Geflüchteten kam im März im Hafen von Crotone an. Im Februar war ein anderes Boot vor der Küste untergegangen, viele Menschen starben.

Ein Schiff mit Geflüchteten kam im März im Hafen von Crotone an. Im Februar war ein anderes Boot vor der Küste untergegangen, viele Menschen starben.

(Foto: Valeria Ferraro/AP)

Recherchen zeigen, dass ein Bootsunglück vermeidbar gewesen wäre, bei dem viele Geflüchtete starben. Die EU ringt um ihre Asylpolitik. Doch will sie das Problem lösen?

Von Lena Kampf, Josef Kelnberger und Kristiana Ludwig, Berlin/Brüssel

Die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten begreift mittlerweile Fragen der Migration als ernsthafte Gefahr für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Deshalb gibt es bei der Suche nach gemeinsamen Antworten derzeit Fortschritte, die viele Jahre lang undenkbar erschienen. Am Donnerstag trifft sich die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) mit ihren Kolleginnen und Kollegen in Luxemburg, um über neue Regeln für Aufnahme, Verteilung und Rückführung von Asylbewerbern zu reden.

Was nicht auf der Tagesordnung steht: eine gemeinsam organisierte Seenotrettung, wie sie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) noch kürzlich verlangte. Für so eine Mission gäbe es nicht ansatzweise Mehrheiten. Dabei hätte die EU durchaus Anlass, über dieses Thema zumindest zu reden. Das zeigen Recherchen zu dem verheerenden Unglück am 26. Februar vor der kalabrischen Küste.

Die etwa 180 Geflüchteten, die vor Süditalien auf einem Boot in Seenot gerieten, hätten gerettet werden können, wenn alle Regeln eingehalten worden wären. Obwohl die europäische Grenzschutzagentur Frontex den italienischen Behörden mehr als fünf Stunden vor dem Unglück mitgeteilt hatte, dass das Boot mit dem Namen Summer Love möglicherweise überfüllt war und keine Rettungswesten sichtbar waren, überprüften weder die italienische Küstenwache noch die Zollbehörde die Sicherheit der Passagiere. Das geht aus internen Unterlagen hervor, die die Süddeutsche Zeitung gemeinsam mit dem Investigativbüro Lighthouse Reports und weiteren Medienpartnern auswerten konnte.

Der Untergang der Summer Love ist eines der tödlichsten Schiffsunglücke im Mittelmeer der vergangenen Jahre. 94 Menschen starben, darunter 35 Kinder. Bis zu 30 Menschen werden noch vermisst. Die meisten der Passagiere kamen aus Afghanistan.

Mitgliedstaaten der EU sind verpflichtet zu überprüfen, ob Schiffe in ihrer Seenotrettungszone gefährdet sind. Ein vertraulicher Bericht zeigt, dass Frontex frühzeitig von einem "möglichen Migrantenboot" ausgegangen war, da es durch Wärmemessungen viele Menschen an Bord feststellte. Dies hatte die Agentur auch den italienischen Behörden am Vorabend des Unglücks mitgeteilt. Die Summer Love befand sich zu dem Zeitpunkt noch etwa 70 Kilometer von der Küste entfernt. Den für Seenotrettung zuständigen Behörden stand diese Information sogar per Livestream der Bordkamera des Frontex-Flugzeugs zur Verfügung. Das Flugzeug musste wegen starker Winde dann aber früher abdrehen. Eine Kontrolle durch Boote der Zollbehörde scheiterte offenbar an den schlechten Wetterbedingungen. Die Küstenwache reagierte nicht auf die Anzeichen von Seenot. Gegen die Behörden sowie die Schlepper der Summer Love wird in Italien ermittelt.

Es gibt zwei zentrale Punkte bei der Asylreform, über die die EU gerade verhandelt

Die Bundesregierung hat im März 32 Überlebende des Unglücks in Deutschland aufgenommen. Dies sei "ein selbstverständlicher Akt der gelebten Solidarität", erklärte Faeser. Bei den derzeit laufenden Verhandlungen um eine Asylreform ist die verpflichtende Umverteilung von Geflüchteten innerhalb der EU einer der beiden zentralen Punkte. Der andere sind Asylverfahren an den Außengrenzen. Asylbewerber mit geringen Aussichten auf Erfolg sollen dort ein Schnellverfahren durchlaufen und, wenn ihr Antrag abgelehnt wird, von dort wieder rückgeführt werden. Menschen mit höheren Chancen auf Asyl sollen künftig nur dann bleiben können, wenn sie nicht bereits ein Land durchquert haben, das ihnen ebenfalls Schutz geboten hätte.

Das Europaparlament hat sich über diese Regeln schon verständigt, die Mitgliedsländer ringen noch um eine Position. Faeser warnt immer wieder, der grenzkontrollfreie Schengen-Raum könne fallen, wenn es nicht bald gemeinsame Lösungen gebe.

In den laufenden Verhandlungen dringt Deutschland zwar darauf, Familien mit Kindern von den Verfahren an den Außengrenzen auszunehmen, doch dafür wird es wohl keine Mehrheit geben. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger kritisiert, dass die Bundesregierung versäumt habe, frühzeitig "menschenrechtebasierte Vorstellungen in die Gespräche auf EU-Ebene einzubringen".

Seit Wochen bereiten EU-Diplomaten das Ministertreffen am Donnerstag vor. Ob es einen Durchbruch geben kann, blieb bis zum Wochenende offen. Es zeichnen sich aber Kompromisslinien ab. So sollen die Staaten an den Außengrenzen die Asylverfahren nur bis zu einer gewissen Zahl erledigen müssen. Staaten, die keine Asylbewerber aufnehmen wollen, sollen sich mit hohen Geldzahlungen freikaufen können.

Um einen Beschluss zu fassen, müssen 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten, zustimmen. Ungarn und Polen allein könnten ihn also nicht blockieren. Besonders wichtig ist allerdings Italien. Ohne Zustimmung von Regierungschefin Giorgia Meloni werde nichts beschlossen, so das allgemeine Verständnis, denn Italien wird hauptsächlich von den neuen Regeln betroffen sein.

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