Süddeutsche Zeitung

Ethik:Einsicht und Konsequenz

Sind Moralphilosophen bessere Menschen?

Von Sebastian Herrmann

Die Versuchungen locken überall. Doch wer nach ihnen greift, kriegt was auf die Pfoten: Was Spaß macht, ist meist verboten, ungesund oder unmoralisch. Fernreisen zum Beispiel? Angesichts des Klimawandels höchst unvernünftig. Ein festliches Gelage mit Wein, Bier und Braten? Über seinen Alkoholkonsum sollte man mal selbstkritisch nachdenken, und zwar bevor die Leber erschöpft um Gnade winselt. Und wer heute noch Fleisch isst, versündigt sich gleich auf vielerlei Weise: erstens am Klima, zweitens am Mitgeschöpf und drittens an seinem eigenen Leib. Ach, es ist so elend anstrengend, ein anständiger Mensch zu sein, ein stetes Scheitern an fremden und eigenen Ansprüchen.

Doch die Wissenschaft bietet ein wenig Trost für uns alltägliche Sünder. Gerade berichten die beiden Psychologen Philipp Schönegger und Johannes Wagner von der schottischen Universität St. Andrews, dass Moralphilosophen auch keine grundsätzlich besseren Menschen sind als ethische Laien. Weder formulieren sie im Alltag durchweg strengere normative Maßstäbe, noch folgt ihr eigenes Handeln besonders hehren Standards. Mit anderen Worten: Moralphilosophen sind auch nur Menschen. "Selbst wenn man sich über Jahrzehnte auf theoretischer Basis mit ethischen Fragestellungen beschäftigt", sagt Schönegger, "hat das wohl kaum Einfluss auf Haltung und Handeln."

Für die Studie im Fachblatt Philosophical Psychology verglichen die Wissenschaftler Einstellungen und Verhalten von Moralphilosophen an deutschsprachigen Universitäten mit denen von Lehrstuhlinhabern, die sich nicht mit ethischen Fragen befassen. Die Ethiker fielen fast nur in einem Bereich positiv auf: Sie verzichteten eher auf Fleisch. Durch besondere Spendenbereitschaft taten sie sich hingegen nicht hervor - auch wenn sie das grundsätzlich für geboten hielten.

Theoretisches Wissen und praktische Konsequenzen klaffen natürlich auch jenseits philosophischer Grübelstuben auseinander. Manch profilierter Umweltpolitiker gönnt sich etwa persönlich Fernreisen mit dem Flugzeug. Von Ärzten ist aus Studien bekannt, dass sie selbst oft keine Gesundheitsapostel sind, etwa rauchen, saufen und auch mal stimulierenden oder sedierenden Medikamenten zugetan sind. Und an der moralischen Bigotterie der katholischen Kirche verzweifeln Menschen seit Jahrhunderten.

Es sind weder theoretische Einsichten noch griffige Meinungen, die Menschen ethisch handeln lassen. Vielmehr steuern Situationen und Emotionen unser Verhalten, sagen Psychologen. Eine Gelegenheit kann einen Heiligen zum Dieb machen. Und unter Stress, so hat einst eine Studie gezeigt, ignorieren sogar Priesteranwärter mitunter Menschen in Not - selbst dann, wenn sie gerade auf dem Weg zu einem Referat über Barmherzigkeit sind.

Es bleibt die Frage, ob Ethiker denn überhaupt besonders anständig sein müssen? Der deutsche Moralphilosoph Max Scheler soll diese Frage einst nach einem Bordellbesuch mit dem Satz beantwortet haben: "Der Wegweiser geht auch nicht den Weg, den er weist." Als schadenfrohem Sünder kommt einem da in den Sinn: Moralphilosophen mögen keine Heiligen oder Moralapostel sein, aber dafür können sie ihre Sünden sehr geschmeidig rechtfertigen.

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Quelle:
SZ vom 22.03.2019
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