Süddeutsche Zeitung

Estland:Europas Musterschüler driftet langsam nach rechts

  • In der neuen estnischen Regierung häufen sich seit dem Amtsantritt Ende April rechte Parolen von Seiten der populistischen Estnischen Konservativen Volkspartei.
  • Präsidentin Kersti Kaljulaid bekennt sich zum Rechtsstaat, Regierungsmitglieder wollen dagegen Journalisten in ihren Rechten beschneiden.
  • Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit könnte auch Folgen für den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes haben.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Kai Strittmatter, Tallinn

Toomas Hendrik Ilves ist natürlich doch gekommen. Estlands Ex-Präsident grinst, als zum Ende der "Lennart Meri Conference" erwähnt wird, dass Mitglieder der rechtsextremen Regierungspartei Ekre gefordert hatten, ihm die Einreise zu verweigern, weil er dem Ruf des Landes im Ausland schade. Ilves, der bis 2016 Staatsoberhaupt war und nun Gastprofessor an der Elite-Uni Stanford ist, hatte am Sonntagmittag nur einen bissigen Kommentar für Ekre übrig: "Wir streiten noch darüber, ob wir ihren Intelligenzquotienten mit den amerikanischen oder europäischen Schuhgrößen messen." Egal, ob also 18 oder 52 als Maximum genommen wird: Die Verachtung für Ekre ist ebenso groß wie das Entsetzen über deren Partner.

Die "Lennart Meri Conference" ist die wichtigste Sicherheitskonferenz in Osteuropa, wo jedes Jahr ausländische Politiker und Thinktanker auf jene Esten treffen, die ihr Land seit 2004 zum Musterschüler der neueren EU-Mitglieder gemacht haben. Nirgends in der Region ist die Korruption geringer, hier kann seit 2005 im Internet gewählt werden und die Steuererklärung ist in Minuten gemacht - natürlich online. Dass das Image von E-Estonia nun in Gefahr gerät, beschäftigt die Konferenz.

"Hoffentlich taucht so ein Video bei uns auch auf ..."

Aber gerade für die Esten geht es natürlich um viel mehr, die Angst davor, dass das Land nach rechts driftet. Also wird das Strache-Video, das SZ und Spiegel veröffentlicht haben, laufend auf den Gängen diskutiert und kommentiert. "Hoffentlich taucht so ein Video bei uns auch auf, dann wäre der Spuk vorbei", sagt eine Teilnehmerin.

Ilves bedankt sich vom Podium aus bei den deutschen Medien für die Enthüllung - und für viele in der estnischen Elite ist dies der Beweis, dass die Ankündigung von Premierminister Jüri Ratas nicht funktionieren werde, die radikale Partei durch Einbindung kleinzuhalten. Dass Ratas nicht wie in den Vorjahren an den Diskussionen teilnimmt, fällt allen auf - aber sie hören neben Ilves' Spott das klare Bekenntnis seiner Nachfolgerin Kersti Kaljulaid zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Die 49-Jährige ist bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, und auf der Meri-Konferenz wird klar, wie sehr sie Ekre ablehnt. Aber sie ist nicht so deutlich, wie Tage zuvor bei einem Treffen mit europäischen Journalisten. Kaljulaid ist sichtlich genervt, dass sie sich entschuldigen muss für die rassistischen Sprüche der neuen rechtspopulistischen Abgeordneten und Minister: "Ich hasse sie dafür."

In den knapp drei Jahren ihrer Amtszeit hat sie Estland weltweit als digitales Wunderkind vertreten - und nun sitzt Ekre mit fünf Ministern in der Regierung, weil Ratas sein vor der Wahl gegebenes Versprechen gebrochen hat. Ekre-Chef und Innenminister Mart Helme und sein Sohn Martin Helme, Finanzminister, waren in der Vergangenheit mit rassistischen Äußerungen aufgefallen ("Wenn du an einen Negerkopf klopfst, dann ist der hohl").

Der Landwirtschaftsminister von Ekre bezeichnete Ilves und den früheren EU-Kommissar Siim Kallas kürzlich als "geheime Juden". Bei ihrer Vereidigung Ende April formten Vater und Sohn Helme demonstrativ das OK-Zeichen mit ihren Fingern, was unter Vertretern der "weißen Vorherrschaft" als Erkennungszeichen gilt. Und die Geste wiederholten die Helmes auch, als Marine Le Pen kürzlich Tallinn besuchte.

Zur Vereidigung der Regierung trug Kaljulaid im Parlament einen weißen Pullover, auf dem zu lesen war: "Sona on vaba", Das Wort ist frei. Damit wollte sie ein Zeichen setzen gegen die Angriffe auf Journalisten aus den Reihen von Ekre. Die Helmes hatten zuvor verlangt, "voreingenommene" Journalisten aus dem staatlichen Sender ERR zu entfernen. Aus diesem Grund sprechen viele Esten gerade über den Teil aus dem Strache-Video, in dem der damalige FPÖ-Chef über die mögliche Privatisierung des ORF schwadroniert.

"Sie sind wie alle Autokraten und tun so, als ob alles ganz simpel wäre", sagt Kaljulaid. "Sie mögen die komplexen Fragen der Medien nicht und üben Druck aus." Noch aber gebe es Pressefreiheit in Estland. Aber selbstverständlich sei dies nicht, sagt die Präsidentin: "Ich will, dass unsere Journalisten für ihre Freiheit kämpfen, und zwar jeden Tag. Ehrlich gesagt müssen wir alle das tun."

Bisher gibt sich die Zivilgesellschaft nicht auf: Während der Koalitionsverhandlungen wurde täglich demonstriert, nun protestieren zwei Dutzend Bürger jeden Donnerstag, wenn das Kabinett tagt. Auf der Meri-Konferenz tragen viele stolz eine Stecknadel mit rosa Gummiklecks: Ekre hatte Liberale als "pink slime" bezeichnet. Sorge bereitet auch, dass Ekre den Parlamentspräsident stellt - und dieser mehr Referenden fordert, um "den wahren Willen des Volkes" zum Ausdruck zu bringen.

Die Beteuerungen von Premier Ratas, dass Estland natürlich in Nato und EU bleibe, beruhigen nur bedingt. So ist Verteidigungsminister Jüri Luik anerkannt, aber gerade deswegen fragen viele hinter vorgehaltener Hand, warum er den Wortbruch mittrage. Der Frust erklärt sich auch dadurch, dass sich alle Akteure kennen, denn in München leben mehr Menschen als in Estland, wo man gerne sagt: "Wir sind entweder verwandt oder Nachbarn."

Im Gespräch der SZ macht der frühere Präsident Ilves klar, dass Premier Ratas und die anderen Minister die Verantwortung für die Aussagen der Ekre-Minister nicht leugnen könnten: "Das ist deren Regierung." Eigentlich habe er sich nie mehr zur Innenpolitik äußern wollen, aber nun sei Estlands Demokratie in Gefahr. "Wenn jetzt jemand sagt, dass wir eine rassistische, antisemitischen Regierung haben, kann keiner widersprechen." Er hoffe, dass diese Regierung nicht lange halten werde und die Schäden für Tourismus ("Man erzählt mir von den ersten Stornierungen") und Wirtschaft in Grenzen halte.

Skype habe seine Forschungsabteilung weiter in Tallinn, erzählt Ilves und fragt: "Kommen die Talente mit dunkler Hautfarbe hierher, wenn sie wissen, dass in der Regierung Leute sitzen, die ein weißes Estland wollen?"

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Quelle:
SZ vom 20.05.2019/lala/bix
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