Estland:Nur einen Kanonenschuss entfernt

In der Stadt Narva hat die Mehrheit der Menschen russische Wurzeln. Seit der Krimkrise bemüht sich die Regierung besonders um ihre Bürger am östlichen Zipfel der EU.

Von Silke Bigalke, Narva

Sie stehen einander gegenüber, wie die beiden Königskinder aus der Sage, jede an ihrem Ufer, dazwischen der Fluss. Eine Burg steht in Estland, die andere in Russland. Beide sind kaum einen Kanonenschuss voneinander entfernt. Dort beginnt Kersti Kaljulaid also ihren Ausflug. Zwischen den beiden Festungen spaziert Estlands Präsidentin auf Narvas neuer Hafenpromenade, vorbei an Brunnen, Bänken, Café und Spielplatz. Die EU hat gezahlt, übrigens auch auf russischer Seite, für grenzübergreifende Harmonie. Drüben in Iwangorod kann man von hier nur wenig erkennen, eine kleines Stück Promenade, wenn man genau hinsieht. Estlands Präsidentin möchte den größten Unterschied zwischen dieser Seite des Flusses und der anderen vorführen: "Dass die Menschen hier ihre Freiheiten genießen und die Möglichkeit haben, Politikern offen ihre Meinung zu sagen." Sie spricht mit jedem, dem sie an diesem Dienstagmorgen begegnet, mit Familien, Fischern und Studenten. Sie unterhalten sich auf Russisch: Wie ist das Leben in Narva, im östlichen Zipfel der EU?

Nur vier Prozent der Stadtbewohner haben estnische Wurzeln, 83 Prozent haben russische. Längst nicht alle von ihnen sprechen die Landessprache, und nur knapp die Hälfte der Menschen in Narva hat einen estnischen Pass. Trotzdem ist dies ihre Heimat. Wenn man die Leute hier früher fragte, wie ihre Hauptstadt heiße, antworteten sie Tallinn, so erzählt man sich hier halb im Scherz. Fragte man sie nach ihrem Präsidenten, war die Antwort Putin.

Nach der Annexion der Krim 2014 hörten sie dann eine andere Frage viel häufiger: "Ist Narva als nächstes dran?" Politiker aus Tallinn kamen, Botschafter aus europäischen Nachbarländern, Journalisten. Heute muss man die Frage nicht mehr stellen, die Menschen in Narva nehmen sie oft schon vorweg. Sie müssen nur über den Fluss schauen, um zu sehen, dass sie es auf ihrer Seite besser haben. Außerdem ist Estland anders als die Ukraine Mitglied der EU und der Nato, die in jedes der baltischen Länder Kampftruppen gesendet hat, als Zeichen des Beistands. Erst am Freitag hat Angela Merkel die deutschen Truppen in Litauen besucht.

Estland: Ein Bild von einer Stadt: Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid hat Narva für sich entdeckt.

Ein Bild von einer Stadt: Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid hat Narva für sich entdeckt.

(Foto: Vabariigi Presidendi Kantselei)

In Narva freuen sie sich trotz der Fragerei über die Aufmerksamkeit aus Europa. "Alle sehen, dass es eine Art Bruchstelle ist zwischen unserer Sphäre europäischer Werte und der anderen Denkart", sagt die Präsidentin. Einen Monat lang will Kersti Kaljulaid Estland nun von Narva aus regieren, verteilt auf mehrere Besuche. Sie fährt Boot, radelt durch die Stadt, besucht Unternehmen und Kulturprojekte. Sie will damit Narvas Bewerbung für die Kulturhauptstadt 2024 stützen. Sie will vielleicht auch unterstreichen, wer hier Präsidentin ist.

Katri Raik ist die Direktorin der Sicherheitsakademie in Tallinn, vorher hat sie die Universität in Narva geleitet. Als sie 1999 ankam, galt Narva als estnisches Sibirien, sagt sie. Nun ist sie hier, um die Präsidentin beim Diskussionsabend zu hören, im schicken Restaurant mit Terrasse am Fluss. Katri Raik sitzt im Stadtparlament, sie kümmert sich um Narva. "Ich persönlich war anfangs skeptisch", sagt sie über den Besuch. "Was für ein Zirkus. Aber jetzt verstehe ich, dass es für die Bevölkerung wichtig ist." Weil es Narva und Estland näher zusammen bringe. Und: "Wir unterstreichen, dass das hier die EU-Außengrenze ist und die ethnischen Russen, die hier wohnen, zu uns gehören."

Präsidentin Kersti Kaljulaid:

"Alle sehen, dass es eine Bruchstelle ist zwischen unseren europäischen Werten und der anderen Denkart."

Am nächsten Tag besucht Präsidentin Kersti Kaljulaid die neue Hochschule, die zur Universität in Tartu gehört. Überall wird jetzt gebaut, an der Promenade, drei neue Schulen, neue Fahrradwege, das alte Rathaus soll renoviert werden. Viele Menschen hier fühlten sich lange von Tallinn vergessen. Warum kommt der Wandel erst jetzt? Kaljulaid, selbst Ökonomin, rechnet vor, dass das geringe Durchschnittseinkommen in Estland nach der Sowjetzeit kaum messbar war, es waren etwa 30 Dollar im Monat. Heute sind es eher 1300 Euro. Wenn die Leute mehr verdienen, kann der Staat investieren. "Aber viele Menschen, die nach Narva kommen, fragen: Hat das mit der Krim-Besetzung zu tun?", sagt die Präsidentin. Doch wenn man durch Estland reise, sehe man überall Kräne, nicht nur hier.

Die Altstadt von Narva wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört, um die Universität herum gibt es deswegen viel Grünfläche. Alles wurde platt gemacht, neue Wohnblöcke mit Betonfassade und Flachdach gebaut, die Präsidentin zeigt aus dem Fenster auf ein trostloses Beispiel. Narvas Geschichte war tot. Auch von der ursprünglichen Bevölkerung lebte nach den Deportationen kaum noch jemand hier. Als Estland wieder unabhängig geworden war, ging langsam der größte Arbeitgeber pleite. Die Krähnholm Manufaktur, eine Textilfabrik, hatte einst 12 000 Menschen beschäftigt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie wieder privatisiert, fand nie zu alter Stärke zurück. Als Ivan Sergejev in die USA zog, hatte er nicht geplant, je in seine Heimatstadt Narva zurückzukehren. Er hatte Architektur studiert, doch in Narva wurde nichts gebaut. Die Bevölkerungszahlen sinken bis heute, 56 000 leben noch hier. Sergejev kam zurück, als sein Visum auslief. Heute ist er Chef-Architekt der Stadt. Er beschreibt Städte gerne wie Menschen, Narva leide am Posttraumatischen Stresssyndrom. "Lange war das ein zwielichtiger Ort, niemand war sicher, was hier passiert", sagt er. Er sei zurückgekommen, um etwas aufzubauen, als nächstes sei die Altstadt an der Reihe. Diese 30 Jahre alte Haltung, als Narva seine Orientierung verlor, nicht mal wusste, ob es Teil von Estland bleibe wolle, klinge immer noch nach in den Köpfen vieler Esten, sagt Präsidentin Kaljulaid. Das sei unvernünftig. "Diese Zeiten liegen längst hinter uns." Abends beim Dinner geht es um Bildung. Sprache und Schulunterricht sind wichtige Themen in Narva. Wer in Estland studieren will, sollte Estnisch können. Doch viele Eltern schicken ihre Kinder auf russische Schulen, weil sie ihnen sonst nicht helfen können. In Narvas Alltag spricht ja auch fast jeder Russisch, im Supermarkt, im Restaurant, sogar im Rathaus. Erst seit drei Jahren hat Estland einen eigenen russischsprachigen Fernsehsender, öffentlich-rechtlich. Viele schauen bei den russischen Nachbarn mit. Die ältere Generation sei in der Sowjetunion aufgewachsen und wisse, dass sie Medien mit Vorsicht genießen müsse, sagt Kersti Kaljulaid. Nicht jeder, der Russisch spreche, denke auch wie Putin, das ist ihr wichtig. Trotzdem sehe sie die Risiken von Desinformation, darüber müsse man reden. Vielleicht beim nächsten Spaziergang am Flussufer.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: