Von den Fassaden der prachtvoll renovierten Patrizierhäuser klingen die Volkslieder wider, die der Chor unter dem großen Weihnachtsbaum auf dem Rathausplatz von Tallinn singt. Es ist bitterkalt. Die Menschen an den Glühweinständen halten einen Moment inne, als die Sänger die Ode an die Freude anstimmen, die Europahymne. Die Chorleiterin ruft danach: "Zu Neujahr gehören wir endlich voll und ganz zur Europäischen Union." Die Umstehenden klatschen.
Der EU gehört Estland allerdings bereits seit 2004 an. Doch am 1. Januar 2011 bekommt die kleine Ostseerepublik, die gerade 1,3 Millionen Einwohner zählt, zusätzlich den Euro. Das 17. Mitglied der Eurozone ist die erste ehemalige Sowjetrepublik, die die Gemeinschaftswährung einführt. Überdies wird Tallinn passend zum Euro am 1. Januar für ein Jahr "Europäische Kulturhauptstadt", Grund genug, Beethovens Jubelchor erklingen zu lassen.
Vom Ein-Cent- bis zum Zwei-Euro-Stück zeigen die estnischen Münzen dasselbe Motiv: den charakteristischen Umriss des Landes. Diese einfache Lösung entspricht dem Volkswillen, denn sie ist das Ergebnis einer großangelegten Umfrage. Doch längst nicht alle Esten freuen sich über die Frohe Botschaft vom Euro, wie der Chor sie auf dem Rathausplatz verkündet.
Nach den jüngsten Umfragen meinen 40 Prozent von ihnen, dass der Euro dem Land mehr Nach-, als Vorteile bringe und dass man besser bei der Krone bleibe. Die hatte die neue demokratische Führung in Tallinn im Herbst 1992 eingeführt, ganze neun Monate nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Krone wurde an die D-Mark gekoppelt; in manchen Kommentaren wurde bedauert, dass dies heute nicht mehr so ist. Jedenfalls wurde sie zum Symbol der nach einem halben Jahrhundert der Fremdherrschaft wiedererlangten Unabhängigkeit.
Die Eurogegner befürchten vor allem eine Teuerungswelle. In der Tat sind in den letzten zwölf Monaten, seitdem die Preise auch in Euro ausgeschildert werden müssen, die Lebenshaltungskosten um etwa fünf Prozent gestiegen. Und die Verteidiger der Krone verweisen auch auf die Griechen am anderen Ende Europas: Es sei nicht einzusehen, dass die hart arbeitenden Esten für die unsolide wirtschaftenden Länder der Eurozone zur Kasse gebeten würden.
Der liberale Premierminister Andrus Ansip weist dieses Argument zurück: Die Griechen und die anderen Wackelkandidaten in der Eurozone bekämen ja nur Darlehen, das Geld würde ja nicht verschenkt. Ansip ist seit fünfeinhalb Jahren im Amt, so lange wie kein anderer Regierungschef in den drei baltischen Staaten.
Estnische Wirtschaft stürzte ab
Ursprünglich hatte er den Euro schon 2007 einführen wollen, als Estland einen Wirtschaftsboom mit jährlichen Wachstumsraten um die zehn Prozent erlebte. Doch mit der Konjunktur war auch die Inflation gewachsen, so dass die damaligen Euroländer die Esten erst einmal abwiesen. Dann kam 2008 die globale Finanzkrise, in Estland platzte zusätzlich eine große Immobilienblase. Die Wirtschaft stürzte 2009 um fast 15 Prozent ab. Das Land, bis dahin als "kleiner Tiger an der Ostsee" gelobt, schien zum Problemfall geworden zu sein.
Tallinn:Mittelalter trifft Moderne
In Tallinn kontrastieren alte Giebelhäuser mit gläsernen Wolkenkratzern, die New York Times nannte sie einmal die "Partyhauptstadt Europas".
Doch dann kam die große Stunde des Andrus Ansip: Im Gegensatz zu den lettischen Nachbarn nahm Tallinn keine Hilfe der EU und des Internationalen Währungsfonds an. Auch wurde das Haushaltsdefizit nicht ausgeweitet wie in Polen, dem größten der Reformländer aus dem ehemaligen Ostblock. Stattdessen verkündete Ansip ein simples Rezept: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen, denn wir haben über unsere Verhältnisse gelebt!"
Die Regierung ging mit gutem Beispiel voran: Die Bezüge der Minister wurden um ein Fünftel gekürzt, ein Viertel der Staatsbeamten wurde entlassen, die anderen mussten kräftige Abstriche am Gehalt hinnehmen. Leistungen des Gesundheitswesens und des Sozialfonds wurden drastisch zusammengestrichen. Ansip verwies immer wieder darauf, dass die Privatwirtschaft von der Krise noch härter getroffen sei. Die Unternehmen kürzten ihre Löhne bis zu 40 Prozent, auch gab es eine Entlassungswelle. Am Tag der Euro-Einführung werden 18 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos gemeldet sein.
Im Ergebnis aber wurde das geschafft, was vor Jahresfrist niemand für möglich hielt: Estland erfüllt nach dieser Rosskur die Maastricht-Kriterien für den Beitritt zur Eurozone. Das Land verfügt nun in der EU über die solidesten Staatsfinanzen: Die öffentliche Verschuldung liegt bei sieben Prozent (Griechenland: 115 Prozent), die Inflationsrate bei ganzen 0,1 Prozent und das Haushaltsdefizit bei zwei Prozent. Im kommenden Jahr wird sogar mit Überschüssen gerechnet. Das Erstaunlichste aber: Die Esten haben diese letzten beiden Jahre "voller Schweiß und Tränen", wie es viele Kommentatoren im Rückblick nennen, ohne öffentlichen Aufruhr hingenommen. Im Gegensatz nicht nur zu den Mittelmeerländern, sondern auch zu Lettland, wo es angesichts der Notmaßnahmen der Regierung zu Beginn der Bankenkrise in der Hauptstadt Riga zu Massendemonstrationen und sogar einer Straßenschlacht kam.
Politiker aus allen Ländern der Eurozone sind in den letzten Monaten nach Tallinn gekommen, um zu fragen, wie es zu diesem kleinen Wunder an der Ostsee gekommen ist. Die Antworten: skandinavische Besonnenheit, protestantisches Arbeitsethos, Rückbesinnung auf die hanseatischen Grundsätze, nämlich nur Geld auszugeben, das man erwirtschaftet hat. Tallinn war einst unter dem Namen Reval eine der bedeutendsten Hansestädte, in der Altstadt erinnern Namen von Straßen, Restaurants und Geschäften an diese Zeit. Mit der Wirtschaftskrise mussten sich die Esten allerdings sagen, dass sie ihre traditionellen Tugenden missachtet hatten, denn die Privathaushalte sind hoch verschuldet. Gerade schwedische Banken haben den Privatkonsum angeheizt, indem sie praktisch bedingungslos Kredite vergaben, oft reichte eine SMS. Heute herrscht Einigkeit darüber, dass dies ein hausgemachtes Problem sei, das vom Land allein bewältigt werden müsse.
Noch ein weiterer Grund für das Stillhalten der Esten bei dem gnadenlosen Sparkurs wird genannt: Das Land hat schon einmal eine Schocktherapie erlebt und sehr gut überstanden, nämlich den radikalen Übergang von der maroden sowjetischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurden nahezu alle Staatsbetriebe privatisiert, unrentable Fabriken geschlossen, die Stellen in der Verwaltung um fast 90 Prozent gekürzt. Gleichzeitig öffnete sich das Land für ausländisches Kapital, vor allem die Deutschen, die Schweden und die Finnen investierten. Die Führung setzte also damals schon Strukturreformen durch, vor denen sämtliche Mittelmeerländer bis heute zurückgeschreckt sind.
Radikaler Generationswechsel
Gleichzeitig setzte der damalige Präsident Lennart Meri einen Generationswechsel in Politik und Verwaltung durch: Die alte Funktionärsgeneration aus Sowjetzeiten musste gehen, es kamen junge Leute, mit Ende 20, Anfang 30 wurden sie nun Kabinettsmitglieder, Generaldirektoren oder Firmengründer.
Der Abbau bürokratischer Hürden und die niedrigsten Steuersätze in Europa beflügelten einen wahren Gründerboom, vor allem in der elektronischen Industrie. In einem der neuen Industrieparks um Tallinn wurde der Internetdienst Skype entwickelt. Die neue Politikergeneration setzte auf Internet und Mobilfunk, alle Verwaltungsformulare können per E-Mail an die richtige Stelle geleitet werden. Estland hat heute den höchsten Anteil an Internetanschlüssen pro Haushalt in der gesamten EU.
Vor drei Jahren mussten die Esten allerdings erfahren, dass die Elektronisierung des öffentlichen Lebens das Land überaus anfällig macht. Denn kurz nach dem Streit zwischen Tallinn und Moskau über die Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Zentrum auf einen Soldatenfriedhof am Stadtrand legten massive Hackerangriffe die zentralen estnischen Server lahm, fast das ganze Land funktionierte für ein paar Tage nicht mehr, von den Banken bis zu den Notrufzentralen. Experten der Nato haben herausgefunden, dass der massive Cyberangriff von Russland aus gestartet worden war.
Damit stand für die große Mehrheit der Esten fest, dass die schnell beleidigten Nachbarn im Osten, deren starker Mann Wladimir Putin nach eigenen Worten die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken als "geostrategische Katastrophe" ansieht, jederzeit wieder versuchen könnte, das kleine Land zu destabilisieren. Der Euro soll also den Schutz, den man sich von der Mitgliedschaft in Nato und EU erhofft, noch weiter verstärken.
Die Erinnerung an die Sowjetzeit, in der Tallinn eine völlig heruntergekommene, muffige Stadt war, deren Einwohner Schlange vor schlecht bestückten Geschäften mit unfreundlichem Personal stehen mussten, schwingt somit in vielen Kommentaren und Politikerreden zum Jahreswechsel mit. Im heutigen Tallinn mit seiner prächtig renovierten Altstadt sowie den neuen Einkaufs- und Technologiezentren erinnert nur noch wenig an die dumpfen Sowjetzeiten. Der Euro soll dazu beitragen, dass sie nie zurückkehren.