In Estland gibt es jetzt Koalitionsgespräche – obwohl sich die drei Partner eigentlich nicht erst finden müssen. Sie regieren bereits. Aber in gewisser Weise muss sich das estnische Kabinett neu erfinden, denn demnächst verlässt die vermutlich bekannteste Estin aller Zeiten Tallinn, um nach Brüssel zu ziehen. Ministerpräsidentin Kaja Kallas soll neue Außenbeauftragte der Europäischen Union werden. Damit tut sich an der Spitze der estnischen Regierung, die seit Frühjahr 2023 im Amt ist, eine eklatante Leerstelle auf.
Erwartet wird, dass die 47-Jährige ihren Rücktritt erklärt, wenn sie vom Nato-Gipfel in Washington zurückgekehrt ist, also Ende der Woche. Kommenden Montag könnte ihr bereits ausgewählter Nachfolger ins Amt gewählt werden. Kristen Michal gehört ebenfalls der Reformpartei von Kaja Kallas an. Der 48-Jährige ist derzeit Klimaminister, diente in früheren Regierungen als Justiz- und Wirtschaftsminister.
Die Beliebtheit der reformfreudigen Regierung sank rasant
Die estnische Regierung aus der Reformpartei, den Sozialdemokraten und der jungen liberalen Partei Eesti 200 ist etwas ins Trudeln geraten. Und das nicht, weil Kallas nun fortgeht – sondern eher, weil sie erst jetzt geht. Im März 2023 hatte ihre Partei die Parlamentswahl mit mehr als 31 Prozent der Stimmen gewonnen. Sie selbst hatte so viele Direktstimmen erhalten wie niemand vor ihr. Die Wahlbeteiligung war hoch, erstmals konnte ein liberales Kabinett ohne Beteiligung konservativer Parteien gebildet werden. Kallas’ neue Regierung nutzte das, um schnell die Ehe für alle durchzusetzen – eine Ausnahme unter allen postsozialistischen Staaten. In den meisten gibt es nicht einmal die eingetragene Partnerschaft. Außerdem wollte die neue Regierung stark in erneuerbare Energien sowie natürlich in Verteidigung investieren, etwa in ein Raketenabwehrschild.
Tatsächlich verabschiedete das Parlament in diesem Jahr ein Gesetz, das den Bau von Windrädern und Photovoltaikanlagen vereinfachen soll. Zudem einigte man sich auf ein Gesetz zur „klimasicheren Wirtschaft“, das optimale Ressourcenverwertung und den Einsatz sauberer Technologien fördert.
Doch die Beliebtheit der Regierung und von Kallas selbst sank im Rekordtempo. Bei den Europawahlen, an denen nur knapp 37 Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen, erreichte die Reformpartei kaum 18 Prozent. In der jüngsten am Mittwoch erschienenen Befragung des Instituts Norstat erhielt die Reformpartei die niedrigsten Zustimmungswerte der vergangenen fünf Jahre. Mit der Arbeit der Regierung zeigten sich 65 Prozent der Befragten unzufrieden, mit Kallas selbst sogar 68 Prozent.
Eine Finanzaffäre um ihren Ehemann, einen Unternehmer, der nach Kriegsausbruch noch Geschäfte mit Russland abgewickelt hatte, schadete Kallas im vergangenen Spätsommer massiv. Sie und ihre Partei lehnten dennoch alle Rücktrittsforderungen ab.
Kristen Michal muss sparen und mit der Vaterlandspartei fertigwerden
Kristen Michal, der zu Kallas’ Nachfolger auserkoren wurde, tritt ein schweres Erbe an. In den Gesprächen der Koalitionspartner geht es vor allem ums Geld und darum, wie die Wirtschaft gefördert werden kann. Einig ist man sich, dass alle Ministerien sparen müssen. Auch eine eigentlich versprochene Senkung der Einkommensteuer könnte ausgesetzt werden.
Damit käme die Regierung einer Forderung der Opposition nach. Die konservative Isamaa verlangt, den derzeitigen Steuersatz zu erhalten. Die sogenannte Vaterlandspartei führt derzeit in den Umfragen, gewann auch die Europawahl. Sie wirft der Regierung vor, heimlich die Ausgaben für die Verteidigung senken zu wollen. Außerdem würde die Regierung die Steuern letztlich an anderen Stellen wieder eintreiben wollen, etwa bei Grundstückseigentümern.
Isamaa möchte lieber heute als morgen selbst wieder in die Regierung und wirbt seit Monaten aggressiv für ein Misstrauensvotum. Der Kallas-Regierung werfen die Konservativen vor, zu lügen. Die Regierung sei schuld am Niedergang der Wirtschaft und der geringen Geburtenrate.
Noch-Klimaminister Kristen Michal fallen für die Wirtschaftskrise noch ein paar andere Gründe ein, nicht zuletzt Russlands Krieg in der Ukraine. Er setzt auf den Wettbewerbsvorteil durch grüne Technologien. Auch Investitionen in Verkehr und Gebäude und schnelleres Abrufen von EU-Subventionen könnten die Wirtschaft um ein bis zwei Prozent wachsen lassen. Er denke langfristig, teilte er nach seiner Berufung zum Nachfolger von Kallas mit. Der Blick müsse über die Schlagzeilen und eine kurze Amtszeit hinausgehen – auf die nächsten 50 Jahre Estlands.