Estland:Der finale Eklat

Estland: Richtung Ausgang: Premier Jüri Ratas kurz nach seinem Rücktritt am Mittwoch.

Richtung Ausgang: Premier Jüri Ratas kurz nach seinem Rücktritt am Mittwoch.

(Foto: RAIGO PAJULA/AFP)

Die Regierung des baltischen Staates stürzt über einen Korruptionsskandal - nachdem die Koalition schon zuvor in immer neue Krisen geraten war.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Die estnische Regierung ist am Mittwoch über einen Korruptionsskandal gestürzt. Premierminister Jüri Ratas reichte seinen Rücktritt ein bei Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid. Zuvor war bekannt geworden, dass die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet hatte gegen seine Zentrumspartei und fünf Verdächtige, darunter den Generalsekretär der Zentrumspartei, Mihhail Korb. Der Rücktritt des Premiers bedeutet das Ende der jetzigen Koalitionsregierung, die in den letzten fast zwei Jahren mehrmals in die Schlagzeilen geraten war mit Kontroversen, die meist der kleinste Koalitionspartner, die rechtsextreme Ekre, ausgelöst hatte.

Präsidentin Kersti Kaljulaid beauftragte noch am Mittwoch die Vorsitzende der oppositionellen liberalen Reformpartei, Kaja Kallas, mit der Bildung einer neuen Regierung. Die estnischen Parteien und Institutionen müssten angesichts der Corona-Pandemie nun schnell handeln: "Wir haben in der gegenwärtigen Krise nicht die Zeit, formelle Fristen auszuschöpfen", sagte Kaljulaid. "Die Viruskrise tötet estnische Bürger jeden Tag." Auch dürften die Bürger das Vertrauen in den Staat nicht verlieren.

Vater und Sohn verfolgen eine ultranationalistische Politik

Die frühere Europaabgeordnete Kaja Kallas und ihre Reformpartei hatten die letzten Parlamentswahlen im März 2019 gewonnen: Sie war mit knapp 29 Prozent der Stimmen als stärkste Partei daraus hervorgegangen. Der damals schon amtierende Premierminister und Wahlverlierer Jüri Ratas vereitelte jedoch eine Regierungsbildung durch Kaja Kallas: Um seinen Machterhalt zu sichern, brach er mit einem Tabu und begann Verhandlungen mit der rechtsextremen Partei Ekre, angeführt vom Vater-und-Sohn-Gespann Mart und Martin Helme. Am Ende stand eine Koalition aus Zentrum, Ekre und Vaterlandspartei, die im April 2019 die Regierung übernahm.

Der Vater und Ekre-Gründer Mart Helme wurde in dieser Regierung Innenminister, der Sohn Martin Helme Finanzminister. Beide verfolgen eine ultranationalistische und europafeindliche Politik und fallen immer wieder durch rassistische und homophobe Äußerungen auf. Das kleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern hatte bis dahin als europäischer Musterschüler gegolten, nun folgte eine Reihe von Eklats. Im Dezember 2019 etwa musste sich Estlands Präsidentin bei Finnland entschuldigen, nachdem Innenminister Mart Helme die neue finnische Premierministerin Sanna Marin als "kleine Verkäuferin" verspottet hatte.

Im November 2020 schließlich sah sich Mart Helme zum Rücktritt gezwungen. Zuvor hatten er und sein Sohn Martin in einer gemeinsamen Radiosendung die US-Wahlen als "gefälscht" bezeichnet. Mart Helme nannte den gerade gewählten US-Präsidenten Joe Biden ein Geschöpf des "tiefen Staates", der "korrupte Drecksäcke" an die Macht bringe, um sie dann zu erpressen. Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid sprach daraufhin von einem "verbalen Angriff" auf die nationale Sicherheit Estlands.

Im Gegenzug für den Corona-Hilfskredit sollte die Baufirma an die Regierungspartei spenden

Der Sturz der Regierung hat nun nur am Rande mit Ekre zu tun: Eine Beraterin und Parteifreundin von Finanzminister Martin Helme gehört zu den Festgenommenen. Der Großteil der Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft scheint sich allerdings auf die Zentrumspartei von Jüri Ratas zu konzentrieren. Es geht um einen offenbar allzu leichtfertig gewährten 39-Millionen-Euro-Corona-Hilfskredit an eine Baufirma. Die Firma sollte im Gegenzug der Zentrumspartei eine Million Euro im Jahr an Spenden zuschanzen. Premier Jüri Ratas erklärte am Mittwoch, von nichts gewusst zu haben, die Entscheidung zum Rücktritt sei dennoch "die richtige". Bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt er provisorisch im Amt.

Oppositionsführerin Kaja Kallas könnte nun möglicherweise die konservative Vaterlandspartei für eine Regierung mit ihrer Reformpartei und den Sozialdemokraten gewinnen. Eines schloss sie schon einmal aus: Mit Ekre werde sie auf keinen Fall koalieren.

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