Terrorismus:Der Feind sitzt auch in unseren Köpfen

Ausnahmezustand in Paris

Hunderte Wohnungsdurchsuchungen, Verhaftungen und Hausarreste in Paris seit den Anschlägen sind nur der Anfang: Razzia in Saint-Denis.

(Foto: actionpress)

Guantánamo, Waterboarding, Killerdrohnen, nun der französische Ausnahmezustand: Der entfesselte Terrorismus provoziert in Demokratien gefährliche Rückfälle.

Von Andreas Zielcke

Mit dem Ausnahmezustand reagieren Demokratien auf überwältigende Bedrohungen. Das wäre trivial, würde aktuell die Bedrohung nicht in erster Linie von Terroristen ausgehen, vor allem vom so genannten Islamischen Staat. Erst sie entfacht diese verhängnisvolle Dynamik, weil die IS-Herrschaft ihrerseits im Ausnahmezustand agiert - und zwar in einem Ausnahmezustand, der die äußerste Ausnahme zu herkömmlichen Ausnahmezuständen darstellt.

Beim IS ist die Sondergewalt nicht, wie in funktionierenden Rechtsstaaten, die regulierte Ausnahme von der Regel, sondern die regelbefreite Normalität. Genfer Konventionen, Gewaltenteilung, Kriegsrecht, Menschenrechte oder auch nur humanitäre Skrupel gelten aus Prinzip nicht. Enthemmte Gewaltförmigkeit ist seine façon d'être.

Daher treffen, wenn sich Demokratien gegen ihn zur Wehr setzen, inkommensurable Ausnahmezustände aufeinander - defensive gegen aggressive, gesetzmäßige gegen gesetzlose Ausnahmeregime. Mit der Balance historischer Kriegszustände hat dies nichts mehr zu tun. Waren ehemals Kampfmethoden auf beiden Seiten durch Tradition und Vertragswerke mehr oder weniger eingehegt, wollen Terroristen von derlei Selbstbeschränkung zugunsten ihrer Widersacher nichts wissen. Ihre Gegner sind vogelfrei.

Der totale Ernstfall tritt ein bei einem Krieg im höchsten Auftrag - für Gott, Nation, die Geschichte

Die Logik dieses entfesselten Furors passt in das Schema Carl Schmitts, des "Kronjuristen des Dritten Reiches" und Theoretikers der politischen Theologie. Seine Unterscheidung der "konventionellen", "wirklichen" und "absoluten" Feindschaft scheint dem Terrorstaat auf den Leib geschrieben: Konventionelle und wirkliche Gegner kämpfen um Landgewinn oder Vorherrschaft. Der totale Ernstfall tritt erst ein, wenn ein Krieg im höchsten Auftrag geführt wird - im Namen "Gottes", der "überlegenen Rasse", für das "Gesetz der Geschichte".

Unterhalb dieses Supremats wird jeder, der sich nicht einreiht, zum absoluten Feind. Auf eigene Würde, eigenes Existenzrecht kann er sich gegenüber der numinosen Instanz nicht berufen und ist der Verdammung oder eben Vernichtung preisgegeben. In dem Sinn fällt der IS nicht ins Mittelalter zurück, sondern in die schlimmsten Gedankenwelten des 20. Jahrhunderts.

Erst diese vollständige Aufkündigung des ethischen Minimums löst bei bedrohten Rechtsstaaten jenen panischen Hang zum Exzess aus, den wir in Frankreich und in den USA und anderswo beobachten, auch wenn man bei weitem nicht auf die höllische Stufe des Angreifers sinkt.

Im Alltag sind Rechtsstaaten ja sehr wohl damit vertraut, auch auf Mord und Totschlag mit rechtmäßigen Mitteln zu antworten. Die Zahl "gewöhnlicher" Tötungsdelikte übersteigt in den meisten Ländern die Zahl der Terroropfer drastisch; in den USA gab es 2012 mehr als 14 800 Morde, in Deutschland und Frankreich jeweils 660.

Doch diese Morde bleiben, so viele es auch sind, Einzelfälle, eine lose Kette privater Katastrophen. Terroranschläge dagegen können, trotz des geringeren individuellen Risikos, Nationen ins Mark treffen, wenn sie Denk- und Lebensweisen gelten (Karikaturen, Andersgläubige, Hedonismus) oder öffentliche Räume (Cafés, Märkte, Versammlungen) zu lebensgefährlichem Terrain machen. In Angst und Schrecken versetzte Öffentlichkeit paralysiert die kollektive Selbstbestimmung.

Das erklärt die Fallhöhe für den Rechtsstaat. Sich auch bei enthemmtem Terrorismus nur rechtlich gehemmt zu verteidigen, verlangt hohe staatliche Selbstdisziplin. In der Tat gehört sie zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften rechtsbewusster Nationen. Doch der gegen alle Intuition ("Not kennt kein Gebot") gerichtete kollektive Lernprozess ist nie abgeschlossen. Kein Wunder, dass Demokratien überall noch schwere Rückfälle erleiden. Mehr als der "wirkliche" Krieg ist der absolute Terrorismus die Reifeprüfung des Rechts.

Was aber diese Rückfälle so besonders gefährlich macht, ist, dass sie heute stets im Gewand des Rechts geschehen. Selbst Guantánamo, Waterboarding, Killerdrohnen wurden durch amtliche Rechtsgutachten oder Gesetze gedeckt. Man stellt heute nicht mehr, wie im antiken Rom, einen die Republik rettenden "Diktator" über das geltende Recht. Damals lautete die Paradoxie: Um den Rechtszustand wiederherzustellen, darf der Souverän rechtsfrei agieren. Jetzt lautet sie: Man betrügt das Recht mit dem Schein des Rechts.

Selbst die Tatsache, dass man de facto im Ausnahmezustand handelt, wird kaschiert. Daran hielt sich Deutschland in der Terrorzeit der Siebzigerjahre, daran halten sich die USA bis heute. Der einzige Staat, der sich offen zum Ausnahmezustand bekennt, in den das ganze Land durch Überwachung, Razzien und Verhaftungswellen versetzt wird, ist Frankreich seit dem 13. November. In aller Regel wird der Ausnahmezustand als (allenfalls verschärfte) Rechtsnormalität maskiert.

Im französischen Ausnahmezustand ist auch die Pressefreiheit nicht sicher

Aber nicht nur das Recht wird im Namen des Sonderrechts ausgehöhlt, sondern sogar die praktische Vernunft. Erklärter Zweck aller Ausnahmemaßnahmen ist es bekanntlich, die Sicherheit zu erhöhen. Vergleicht man aber etwa die sehr unterschiedlichen Reaktionsweisen in Frankreich und den Vereinigten Staaten, dann zeigt sich, wie wenig rationales Sicherheitsdenken den Ausschlag gibt, sondern vielmehr die außerordentliche Verschiedenartigkeit der Rechtskulturen.

So erlaubt es das französische Ausnahmerecht, Versammlungen und Demonstrationen zu verbieten, selbst bei Weltereignissen wie jetzt in Paris beim Umweltgipfel. In den USA wäre das ein Sakrileg. Sind Massentreffen jenseits des Atlantiks weniger gefährdet als diesseits? Natürlich nicht.

Erst recht wäre es in Amerika trotz 9/11 undenkbar, aus Furcht vor Terroranschlägen die Pressefreiheit zu beschneiden (jedenfalls offiziell, unter der Hand versuchten amerikanische Regierungen durchaus, Recherchen und Beiträge zu verhindern). In Frankreich ist dies im Ausnahmezustand gestattet. Und man hat davon nach dem 13. November sogleich Gebrauch gemacht, Interviews mit Zeugen untersagt und Bilder zensiert.

Bei der flächendeckenden Überwachung der Telekommunikation stehen die beiden Länder einander zwar wenig nach, zumal Frankreich seit den Anschlägen im Januar seine Kontrollapparate mächtig aufgerüstet hat. Doch die Sphäre der Öffentlichkeit und Meinungsbildung bleibt den im "Krieg" gegen den Terror wahrlich nicht zimperlichen Amerikanern tabu, den Franzosen aber ein weites Feld vorbeugender Gängelung und Unterbindung.

Zum Ausdruck kommt hier die Differenz im Staatsverständnis der beiden Länder trotz derselben Verfassungsquellen in der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Dem Etatismus und der Staatsgläubigkeit der Franzosen steht die ausgeprägte Staatsskepsis der Amerikaner gegenüber. Das sind vereinfachende Klischees, aber zumindest für Frankreich mit einiger Erklärungskraft, weil dort bei aller grandiosen Freiheitsrhetorik und politischen Konfrontationslust ein Grundvertrauen in die Legitimität von obrigkeitlicher Patronage, ja Betreuung und Bevormundung herrscht, das im Westen seinesgleichen sucht. Kein Land leistet sich darum so ein ungeniertes Bekenntnis zum hoheitlichen Ausnahmerecht wie dieses.

Gleich zwei Ausnahmezustände ("Belagerungszustand" und "unmittelbare Bedrohung") sind in seiner Verfassung vorgesehen, ein dritter ("Notstand") in einem Gesetz von 1955. Auf Basis dieses Gesetzes ist der jetzige Ausnahmezustand ausgerufen. Und Präsident Hollande will, dass der modernisierte Gehalt des Gesetzes als weiterer Ausnahmetatbestand ebenfalls in die Verfassung aufgenommen wird. Dreifach konstitutionell für den Extremfall abgesichert, das klingt maßlos - und ist es auch. Ist Frankreich Terrorismus und Notständen stärker ausgesetzt als der Rest des Welt? Natürlich nicht.

Alle Sofortmaßnahmen verraten das Trauma des Angriffs, auch der amerikanische Patriot Act

Weder die USA noch Deutschland regeln den Ausnahmezustand in ihrer Verfassung. Die deutsche "Notstandsverfassung" von 1968 gehört nicht hierher, sie stellt lediglich die Regierbarkeit des Landes sicher, falls zentrale Organe des Bundes ausfallen. Nur zwei Grundrechte sehen überhaupt Einschränkungen vor für Katastrophenfälle oder Bedrohungen für die "freiheitliche Grundordnung".

Dieses verfassungsrechtliche Ausweichen vor dem Ausnahmefall ist bezeichnend. Nicht nur, weil man sich darauf verlässt, dass im Ernstfall ein Gesetz wie der amerikanische Patriot Act in wenigen Tagen aus dem Boden zu stampfen ist. Vielmehr vor allem deshalb, weil ein einfaches Gesetz zum Ausnahmezustand genau das suggeriert, was den beschriebenen trügerischen Rechtsschein begründet: als sei die darüber schwebende Verfassung vom Ausnahmezustand gar nicht tangiert.

Da sind die Franzosen mit ihren verfassungsrechtlich nobilitierten Ausnahmezuständen ehrlicher. Der umgekehrte Nachteil ist allerdings, dass Betroffene hier wenig Chancen haben, gerichtlich gegen Eingriffsakte vorzugehen, da diese sich ja auf die Verfassung selbst stützen. Wie man es dreht, die Falle ist perfekt. Der Schock des Terrors ist der Schock des absoluten Feindes. Alle Ad-hoc-Gesetze der angegriffenen Staaten sind von dieser Schockwirkung geprägt. Vor allem dem Patriot Act ist, obwohl er schon 14 Jahre alt ist, trotz aller Novellierungen das Trauma abzulesen. Und Frankreich scheint dem Vorbild, so gezeichnet es ist, nachzueifern, Kritiker nennen das Sicherheitsgesetz vom Mai nicht zufällig "Französischer Patriot Act".

Wer immer, hüben oder drüben, auch nur entfernt eines der rechtlich nicht mehr fassbaren Verdachtskriterien erfüllt, ist gegenüber den Sicherheitsbehörden böse dran. Die vielen hundert Wohnungsdurchsuchungen, Verhaftungen und Hausarreste ohne Gerichtsbefehl in Frankreich seit den Pariser Anschlägen sind nur der Anfang. Man darf kein muslimischer Migrant sein in diesen Zeiten.

Dabei ist das kleine Einmaleins des Rechtsstaats so einfach: Alle Hoheitsgewalt ist gegenüber den Freiheitsrechten zu relativieren. Doch der Geist des Sicherheitsabsolutismus ist aus der Flasche. Deutschland ist vor ihm ebenso wenig gefeit wie die anderen Länder. Selbst das Bundesverfassungsgericht zog 1978 bei der Prüfung des aus Anlass des RAF-Terrors erlassenen Kontaktsperregesetzes einen fatalen Schluss: Die "Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung" seien "Verfassungswerte", von denen "die Institution Staat die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet".

Zur Not, besagt dies, wird der freiheitsverbürgende dem sichernden Staat geopfert. Sollte Deutschland ähnlich verheerende Anschläge erleiden wie die USA oder Frankreich, wird dem Land diese den Freiheitsgehalt entstellende Werteordnung des höchsten Gerichts noch schwer zu schaffen machen. Der absolute Feind sitzt auch in unseren Köpfen.

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