Essay:Freies Wort

Essay: Der Schriftsteller Gert Heidenreich, 74, ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Der Schriftsteller Gert Heidenreich, 74, ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Hört man den Hassrednern zu, möchte man ihnen den Stecker ziehen. Aber das Recht, die eigene Meinung zu sagen, gilt für alle.

Von Gert Heidenreich

Die Freiheit des Wortes ist das Fundament der individuellen politischen Freiheiten. Wird sie unterdrückt, kann die Demokratie stillschweigend liquidiert werden. Das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten, war auch hierzulande immer wieder bedroht. Jetzt ist es europaweit in Gefahr.

Erschreckendes Zeichen ist die Ermordung von Journalisten und Autoren, wenn sie die kriminelle Energie der Eliten kenntlich machten. Dem Mord tritt seit Langem eine politische Methodik der Einschüchterung zur Seite, die von sogenannten rechtspopulistischen Parteien angewandt wird. Das Ziel ist von der Türkei bis Ungarn, von Polen über Tschechien bis Italien und Malta dasselbe: Die kritische Presse soll mundtot gemacht werden.

In Rom hat der Vorsitzende der Regierungspartei Cinque Stelle, Beppe Grillo, bereits einen Volksgerichtshof gegen Journalisten gefordert. Die Medien-Hetze von Grillo und Innenminister Matteo Salvini hat Erfolg. In Italien sinkt die Zustimmung zur Freiheit des Wortes als Voraussetzung der Demokratie - wie auch bei den Dresdner Lügenpresse-Skandierern.

Zugleich triumphiert die Freiheit der Meinungsäußerung in ihrer widerwärtigsten Gestalt: in den Hassreden von Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński, von Jair Bolsonaro in Brasilien, Stephen Bannon in den USA und dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte. Sie sind nicht die Einzigen. Sie alle nutzen ihre Redefreiheit, um die Freiheiten ihrer Widersacher zu bedrohen und die Denkfähigkeit ihrer Klientel zu betäuben; jeder ein Duce. Die Überschreitung von Grenzen des Anstands gehört im Ducismo zum Programm. Hasssprache und Rüpelsprache vereinigen sich zum Erfolgsidiom: Dass ganz oben einer die Sau rauslässt, legitimiert das Gegrunze ganz unten. Unversehens verfällt man selbst in den Gossenjargon: Warum stopft solchen Gestalten eigentlich niemand das Maul?

Von der eigenen Frage entsetzt, besinnt man sich darauf, dass Meinungs- und Redefreiheit immer die Freiheit des Andersdenkens ist. Das wollen wir bitte nicht bezweifeln. Wenn aber der andere nicht denkt, sondern hemmungslos fälscht, indoktriniert, manipuliert, an die niedrigsten Instinkte und Vorurteile appelliert? Wenn die Freiheit des Wortes verwendet wird, um Menschen zur Masse zu kneten und die Masse aufzuhetzen, bis sie zur Meute wird? Wenn geifernde Tiraden Pogrome in Gang setzen? Sollte man da nicht die Lautsprecherkabel kappen?

Je deutlicher die innere Antwort auf diese Fragen nach einem abgerungenen, doch vernehmlichen "Ja" klingt, umso weiter entfernt sich die Freiheit des Wortes aus ihrer unbedingten Gültigkeit.

Sie ist ein Ideal. Wie in jedem Ideal ist auch in ihr ein Dilemma verborgen. Was so offensichtlich gilt, dass nämlich Meinungsfreiheit der Garant aller anderen politischen Freiheiten ist, heißt im Umkehrschluss, dass sie auch Instrument der Unfreiheit sein kann - wenn sie für Zwecke eingesetzt wird, die ihrer Funktion als Wächterin der Menschenrechte zuwiderlaufen. Sie trägt Verhetzern Wahlsiege ein und half Donald Trump, mit einer bis dato in Washington ungekannten boshaften Primitivität und frechen Anbiederung das Oval Office zu erobern. Es war diese Redefreiheit, die den Wortführern des Brexit haarsträubende Fälschungen ermöglichte, mit denen sie die britische Nation in die absehbare Tragödie führten.

Die Vertwitterung erzeugt einen rudimentären Wortschatz. Die Lüge braucht keinen Relativsatz

Ist die Freiheit der Rede das wert? Sollten wir sie nicht an Aufklärung, Besonnenheit und Benimm, Aufrichtigkeit und vor allem differenzierte Ausdrucksweisen binden? Wir leben nicht in einer Zeit sprachlicher Feinheiten. Die Zertwitterung der Gegenwart, die Trump eingeleitet hat und die seither die politische Klasse infiziert, erzeugt eine Welt aus rudimentärem Vokabular. Der US-Präsident macht keine grammatikalischen Umstände, er lügt bevorzugt ohne Relativsatz. Auch bei anderen Weltverschlechterern drängt sich die Frage auf, ob es nicht gut wäre, ihnen sprachlich Zügel anzulegen, um etwas mehr Wahrheit und Takt zu bewirken. Bedarf es eines verbindlichen Kanons des Erträglichen, Zulässigen, Diskutablen?

Man darf sich das wünschen. Doch wer bestimmt, was ein solches Register enthalten sollte? Wer richtete mit welchem Maß über die Missachtung des Kanons? Und wer sichtete das öffentliche Gespräch auf Verstöße? Die Antwort lautet: Wir würden Zensur legitimieren und einen Überwachungsstaat einrichten.

Die paradoxen Parolen "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" und "Keine Toleranz für die Intoleranz" erzeugen einen Zustimmungsreflex. Doch Freiheit durch Zwang zu erhalten, war in der Ideengeschichte der individuellen Freiheitsrechte von Beginn an ein fundamentales philosophisches und juristisches Problem, das nur durch die Bindung von Rechten an Pflichten gelöst werden kann.

Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, sagt, der Bestand unserer Rechte habe zur Vorbedingung, dass wir unser Verhalten an dem ausrichten, was sie "alte Weisheiten" nennt: Lebensregeln unterschiedlicher Kulturen, bis hin zu Kants kategorischem Imperativ und Hegels Formel "Jedes tut selbst, was es an das Andere fordert". So lässt sich auch die Frage nach Gebrauch und Missbrauch der Redefreiheit beantworten. Die Freiheit des Wortes ist nur ganz zu haben oder nicht. Mit ihrer Rettungskraft und ihrem Zerstörungspotenzial, mit ihrer Friedfertigkeit und ihrer demagogischen Gewalt. Wer dieses Freiheitsrecht für sich beansprucht, muss sich nach seiner Menschenpflicht fragen lassen: Hier erweist sich das ethische und gesellschaftliche Versagen der Neo- und Präfaschisten, die von der Freiheit des Wortes Gebrauch machen, um den anderen öffentlich zu diskreditieren. Durch die Missachtung ihrer Menschenpflichten und die Einschränkung jeglichen Respekts auf die eigene Klientel propagieren sie eine brutale Gesellschaft, die durch den Verzicht auf Zivilisiertheit siegreich sein soll.

Das ist ihre Gefährlichkeit, darum muss ihre Politik mit den Instrumenten der freiheitlichen Demokratie bekämpft werden. Nicht von einigen, sondern von allen. Nicht irgendwann. Jetzt.

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