Essay:"Eine äußerst seltene Angelegenheit"

Die Historikerin Jill Lepore mahnt die Liberalen, die Nation für sich zurückzugewinnen.

Von Meredith Haaf

Essay: Bürgerwut mit Symbolgehalt: Demonstration gegen die Wahl von Donald Trump als US-Präsident im November 2016 in Oakland, Kalifornien.

Bürgerwut mit Symbolgehalt: Demonstration gegen die Wahl von Donald Trump als US-Präsident im November 2016 in Oakland, Kalifornien.

(Foto: Josh Edelson/AFP)

Die Nation als politisches Gebilde und Vorstellung ist nicht der Stoff, aus dem liberale oder progressive Träume heute gemacht sind. Die postmoderne Linke lehnt, vereinfacht gesagt, den Nationalstaat als Raum von Macht und Ausschluss ab, die radikale Linke als Handlanger des Kapitals. Die meisten Normalliberalen interessieren sich mehr für globale Informations- und Handelsflüsse und internationale Gerechtigkeitsfragen als für das, was ihr Land für andere tun könnte, oder sie für ihr Land.

Das ist für die amerikanische Historikerin und Journalistin Jill Lepore ein theoretisches und politisches Grundsatzproblem, das sie am Aussterben der Nationalgeschichtsschreibung verdeutlicht: "Nationen brauchen, wenn sie sich selbst einen Sinn geben wollen, eine Art von Vergangenheit, auf die man sich einigen kann. Sie können das von Wissenschaftlern bekommen, oder sie können sich an Demagogen halten." Mit ihrem Großwerk "Diese Wahrheiten" (C.H. Beck, siehe Süddeutsche Zeitung vom 18. November) legte Lepore 2019 bereits eine Art neue Nationalgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika vor, in der sie den Stimmen, Interessen und Perspektiven all jener Rechnung trug, die in der klassischen amerikanischen Geschichtsschreibung bisher nur das Untergrundrauschen der Überwältigung und Unterdrückung bildeten.

In dem kleinen Folgeband "Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation" ruft sie erneut Sprecher der Anti-Sklaverei-Bewegung, Aktivistinnen der Frauenemanzipation und Führer der indigenen Stämme Amerikas als Kronzeugen an für ihre These, dass die Nation sehr wohl ein passendes Gefäß für einen echten, egalitären Liberalismus ist: "Liberalismus ist der Glaube, dass die Menschen gut sind und frei sein sollten und dass sie Regierungen einsetzen, um diese Freiheit zu garantieren. Der Nationalismus und der Liberalismus wurden aus demselben Grundstoff geformt. Nationen sind Kollektive, und der Liberalismus bezieht sich auf Individuen; liberale Nationen sind Ansammlungen von Individuen, deren Rechte als Bürger von Nationen garantiert werden." Und keine Nation sei so passend wie die amerikanische, die kein Nationalstaat, sondern genau genommen "eine Staatsnation, eine äußerst seltene Angelegenheit" sei.

Manche Widersprüche führen an die süße Stelle zwischen ziemlich genial und völlig absurd

In diesem klaren, gelegentlich grundkurshaften Stil ist der gesamte Text gehalten, der sich mit seinen zehn übersichtlichen Kapiteln auf 150 Seiten gut in einem intensiven Rutsch bewältigen lässt. Lepore liefert einen Schnellritt durch die bewegte Geistesgeschichte liberaler Staatstheorie und skizziert anhand verschiedener Beispiele, wie stark die Nationwerdung der USA von Anfang an durch Differenz, Konflikt und Auseinandersetzung bestimmt war. Jene Eigenschaft, die vielen Beobachtern und auch liberalen Amerikanern selbst als Zeichen einer fundamentalen nationalen Dysfunktionalität gilt - die extremen juristischen, politischen und rhetorischen Konflikte um ganz elementare Verfassungsfragen - sieht sie als schützenswerten und außergewöhnlichen Kern Amerikas: "Die Nation ist der Kampf", schreibt sie gleich an zwei Stellen.

Essay: Jill Lepore: Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München, 2020. 158 Seiten. 14,95 Euro.

Jill Lepore: Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München, 2020. 158 Seiten. 14,95 Euro.

(Foto: Verlag)

Dieser Kampf drehte sich von früh an um die Frage, wer wirklich dazugehörte und wer nicht. Eine Vielzahl von verheerenden Niederlagen erlebten dabei nicht nur die schwarzen Amerikaner, sondern auch die Angehörigen der indigenen Stämme. Eine solche Niederlage war der erniedrigende Dawes Act von 1887, der indigenen Amerikanern die Staatsbürgerschaft bewilligte, wenn sie sich von ihrem Stamm trennten. Zuzüglich erhielten sie ein Stück Land und ein symbolisches Abschiedsgeschenk - Pfeil und Bogen für die Männer, eine Handarbeitstasche für die Frauen. Lepore nutzt paradoxerweise dieses Gesetz, um zu argumentieren, dass in jedem elenden Akt der US-Machthaber auch ein edler Funke des Widerstands wohnt: "Segregation, Exklusion und die mit dem Dawes Act verbundene Staatsbürgerschaft als Gegenleistung verrieten den Geist, die liberalen Versprechen und die verfassungsrechtlichen Garantien des 14. und 15. Zusatzartikels. Aber der Kampf, mit dem die Nation an diesen Versprechen gemessen wurde, sollte eine liberale Tradition fortführen, eine Tradition, die bürgerschaftliche Ideale wertschätzte und Forderungen für die Nation erhob."

Das ist etwas hölzern ins Deutsche übertragen, und man muss sich intellektuell und politisch schon ein wenig verrenken, um Lepore zu folgen. Doch gelangt man, bei allen Widersprüchen, genau an die süße Stelle zwischen ziemlich genial und völlig absurd. Anders gesagt, da, wo es richtig interessant wird. Was auch nur eine Beschreibung für dieses Amerika ist.

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