ESM-Entscheidung:Was das Urteil für Deutschland und den Euro bedeutet

Haftung ohne Limit, ausgehöhltes Budgetrecht, EZB-Interventionen: Die Verfassungsrichter bennnen in ihrem Urteil die Risiken der Euro-Rettung sehr klar, ziehen daraus jedoch kaum Konsequenzen. Ihre Vorbehalte ändern nichts daran, dass Europa nun zusammenrückt - unter großen finanziellen und politischen Risiken. Antworten auf die wichtigsten Fragen zum ESM-Urteil.

Wolfgang Janisch, Heribert Prantl und Ronen Steinke

Es ist ein Urteil mit vielen kleinen Kautelen und ohne groß angelegte Entwürfe. Aber etwas anderes war ohnehin nicht zu erwarten, schon deshalb, weil es sich nur um ein Eilverfahren handelte, wenngleich eines, dessen Ergebnis am Ende Bestand haben wird. Vor allem in dem Punkt, in dem das Bundesverfassungsgericht keinerlei Zweifel offen lassen will: Die Haftungsobergrenze aus dem dauerhaften Rettungsschirm ESM muss für Deutschland bei 190 Milliarden Euro bleiben - egal, was irgendwelche Juristen aus dem Kleingedruckten des ESM-Vertrags herauslesen.

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Wer haftet mit wie viel Geld? Deutschland trägt mit 190 Milliarden Euro die größte Last.

(Foto: SZ Grafik/ Ilona Burgarth)

Denn die Vorgaben des ESM in diesem Punkt seien nur scheinbar eindeutig, argumentieren die Richter voller, vermutlich berechtigtem, Misstrauen. Zwar muss die Haftung Deutschlands, so regelt es Artikel 8 Absatz 5, "unter allen Umständen" auf den deutschen Anteil von 190 Milliarden Euro begrenzt bleiben. Trotzdem beharren die Richter auf einem völkerrechtlich verbindlichen Vorbehalt, damit wirklich keine Vorschrift des Vertrags zu einer Ausweitung der deutschen Haftung durch die Hintertür missbraucht werden darf.

Der ESM - wie groß ist die Haftung wirklich, die Deutschland trifft?

Anlass für Misstrauen bieten die Vorschriften für die sogenannten Kapitalabrufe. Darin ist zum Beispiel folgender Fall gemeint: Wenn ein Mitglied des ESM nicht mehr einzahlen kann, müssen die anderen die Lücke füllen, und wenn ein weiterer Staat ausfällt, dann muss auch das nächste Loch von den verbleibenden Ländern gestopft werden. Der Anteil der verbleibenden Zahler steigt also, steht in Artikel 25 - und lässt offen, bis zu welcher Grenze. Weshalb nun erklärt werden soll, dass die 190-Milliarden-Euro-Grenze auch für diesen Notfall gilt.

Aber auch nach dem Urteil bleibt Raum für eine noch höhere Haftung - und zwar dann, wenn der Bundestag zustimmt. Denn entscheidend ist aus Sicht des Gerichts, dass das gewählte Parlament die Kontrolle über Ausgaben und Einnahmen behält, das ist ein Gebot der Demokratie. An dieser Stelle wird die scheinbar so klare Obergrenze doch wieder löchrig. Zwar hat das Gericht schon im vergangenen Jahr angedeutet, dass sich nicht einmal die Abgeordneten durch gigantische Haftungszusagen auf Jahre hinaus handlungsunfähig machen dürfen. Doch eine Zahl nennt der Senat auch diesmal nicht, sondern verweist auf den - genau - "weiten Einschätzungsspielraum" des Gesetzgebers.

Die EZB kauft Staatsanleihen - geht das?

Klar ist damit nur: Bei 190 Milliarden Euro liegt die Grenze nicht. Wahrscheinlich nicht einmal bei 300 Milliarden. Denn das Gericht hat auch die sonstigen Verpflichtungen Deutschlands mitgezählt, ohne ein Verfassungsproblem zu sehen - etwa aus dem vorläufigen Rettungsschirm EFSF, aus der Griechenlandhilfe und aus der Beteiligung an der Europäischen Zentralbank.

Was sagt das Gericht zur Europäischen Zentralbank?

Die Ausführungen dazu sind erwartbar kryptisch ausgefallen. Schon deshalb, weil dieses Thema einem Hauptsacheverfahren vorbehalten sein soll, das der Zweite Senat möglichst zügig - möglicherweise schon im Oktober - angehen will. Aber er hat er schon einmal zu Protokoll gegeben, wie er die maßgeblichen Vorschriften zur EZB interpretiert: nämlich so, dass der Rettungsschirm nicht von der EZB mit Kapital versorgt werden darf.

Die Zentralbank dürfe keine Kredite an den ESM vergeben, weder direkt noch gegen Hinterlegung von Staatsanleihen. Dann folgt eine Bemerkung, die man in Frankfurt aufmerksam studieren wird: Ein Erwerb von Staatsanleihen am Sekundärmarkt, "der auf eine von den Kapitalmärkten unabhängige Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zielte", sei ebenfalls untersagt.

Das ist noch kein abschließendes Veto gegen das letzte Woche von EZB-Chef Mario Draghi angekündigte Programm zum Ankauf solcher Anleihen - schon deshalb, weil zuerst gerichtlich geklärt werden müsste, ob der Draghi-Plan wirklich als eine "von den Kapitalmärkten unabhängige" Aktion einzustufen wäre - oder nicht eher der Stabilisierung derselben dient. Und der Senat fügt ausdrücklich an, dass die jüngsten EZB-Beschlüsse nicht Thema des Urteils waren.

Dennoch schimmert ein höchstrichterlicher Unmut durch. Sollte die EZB eine Finanzpolitik betreiben, mit der die Haftung Deutschlands ohne Limit und vor allem ohne demokratische Beteiligung des deutschen Bundestags ausgedehnt werden kann, dann würde Karlsruhe einschreiten.

Der ESM kastriert den Bundestag nicht, sagt Karlsruhe

Weshalb die Richter bis zum Ende des Verfahrens die Aktionen der EZB aufmerksam beobachten werden. Weil aber die Kontrolle der EZB nicht ins Ressort der Karlsruher Richter gehört, könnte es am Ende zu einer echten Premiere kommen: Das Bundesverfassungsgericht könnte erstmals in seiner Geschichte den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anrufen und ihm das Verfahren zur Prüfung vorlegen.

Kastriert der ESM den Bundestag? Beenden die automatischen Mechanismen des Stabilitätspakts die Autonomie des Bundestags? Wird der Kern des Grundgesetzes verletzt?

Nein, sagt das Gericht. Ansonsten hätte es darauf hinweisen müssen, dass man eine neue Verfassung oder/und eine Volksabstimmung braucht. Das Verfassungsgericht gliedert sein beschwichtigendes Votum in zwei Teile - in einen sehr konkreten allgemeinen Teil und in einen sehr allgemeinen konkreten Teil.

Das Gericht macht zunächst wunderbare allgemeine Ausführungen dazu, was das Grundgesetz im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik gebietet und was es untersagt. Es verbiete, dass der Bundestag sein Budgetrecht aus der Hand gebe: "Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat." Und das Budgetrecht stelle eine "zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar".

Auch im Zuge der europäischen Integration, so das Verfassungsgericht, müsse der Deutsche Bundestag der Ort bleiben, "an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf europäische Verpflichtungen". Das Parlament dürfe nämlich nicht in die Rolle "des bloßen Nachvollzuges" von fremden Entscheidungen geraten.

Der Haushaltsgesetzgeber, noch ein markanter Satz, müsse seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben "frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union" treffen und dauerhaft "Herr seiner Entschlüsse" bleiben. Der Bundestag dürfe keinem Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus zustimmen, "der - einmal in Gang gesetzt - seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen" sei.

Seitenlang geht das so das hin. Man wartet beim Lesen wie elektrisiert darauf, was daraus nun folgt. Aber die Nutzanwendung dieser Lehrsätze gerät weich und weicher. Die Sätze werden zu Wachs. Das beginnt mit dem Satz, der erklärt, dass sich das Gericht hier zu einer wirklichen Prüfung nicht in der Lage sieht: "Ob der Umfang von Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen zu einer Entäußerung des Haushaltsautonomie des Bundestags führt", sei schwer zu sagen.

Jedenfalls habe der Gesetzgeber da "einen weiten Einschätzungsspielraum", den das Gericht "grundsätzlich zu respektieren hat". Das Gericht liest im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und zitiert mit Wohlwollen die dortigen Formulierungen - Verbot der Haftungsübernahme (bail-out-Klausel), die Stabilitätskriterien und das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung durch die EZB.

Dann benimmt sich das Gericht wie ein Esser, der so tut, als würde er schon vom Lesen des Rezeptes satt. Was die EZB tatsächlich kocht, findet keine Beachtung. Die Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion im neuen Artikel 136 Absatz 3 AEUV sei zwar eine "grundlegende"- sie führe aber "nicht zu einem Verlust der nationalen Haushaltsautonomie".

An Begründung kommt aber dann auf den Seiten 54 ff des Urteils nicht viel, die Richter ziehen sich darauf zurück, dass man sich ja in einem Eilverfahren befinde, und man dort nur "summarisch" prüfen könne. Diese summarische Prüfung führt aber zu apodiktischen Feststellungen: "Es besteht nicht die Gefahr, dass die Bundesrepublik ohne vorherige Zustimmung des Bundestags einem finanzwirksamen Mechanismus ausgeliefert wird, der zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutungen Belastungen führen kann".

Was bewirkt der Karlsruher Ruf nach einem völkerrechtlichen Vorbehalt zur Haftungsbegrenzung?

Praktisch ist dies eine Aufforderung in Richtung Schloss Bellevue. Der Bundespräsident, der in Deutschland dafür verantwortlich ist, die Zustimmung des Parlaments zu einem völkerrechtlichen Vertrag zu beurkunden, muss der Urkunde diesmal ein paar zusätzliche Seiten anhängen, bevor er sie an das Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union schickt, wo alle Ratifikationsurkunden zum ESM-Vertrag zentral hinterlegt werden. Darin soll der Präsident darauf hinweisen, dass Deutschlands Ratifikation nur unter dem Vorbehalt gilt, dass alle Vertragspartner die juristische Lesart Karlsruhes akzeptieren.

ESM-Immunität - ein Problem?

Die übrigen Staaten der Euro-Zone, die vom Generalsekretariat des Rates informiert werden, haben dann die Gelegenheit zu protestieren - was aber wenig wahrscheinlich ist. Und wenn ihr Protest ausbleibt, dann modifiziert der deutsche Vorbehalt am Ende tatsächlich rechtswirksam den ESM-Vertrag. Die Klarstellung aus Karlsruhe wäre dann gültiges Völkerrecht. Und sie müsste deshalb selbst von europäischen Gerichten beachtet werden.

Was hat es mit der Immunität der ESM-Mitarbeiter auf sich? Dürfen sie dem Bundestag gegenüber schweigen?

Der ESM-Vertrag konzipiert den neuen Rettungsschirm als äußerst verschwiegene Luxemburger Institution: Was beim ESM an Schriftstücken produziert wird, bleibt streng vertraulich und kann von den Geldgebern in der Euro-Zone nicht ohne weiteres angefordert werden (Artikel 32); wer beim ESM arbeitet, hat auch vor seiner eigenen Regierung Stillschweigen zu bewahren (Artikel 34), und er muss sich den Gerichten der Mitgliedsstaaten gegenüber im Zweifel auch für nichts verantworten (Artikel 35).

An der juristischen Immunität der ESM-Mitarbeiter stört sich das Bundesverfassungsgericht nicht - wohl aber an ihrer Verschwiegenheit. Wenn die deutschen Parlamentarier bei Entscheidungen mitreden sollen, so die Karlsruher Richter, dann müssten sie auch Zugang zu den nötigen Informationen haben. Dieselbe Ermahnung hatten die Richter im Juni auch schon an die Bundesregierung ausgesandt.

Die verschwiegene Luxemburger Institution ESM muss nicht ihre Bücher öffnen, sie muss den Bundestag und den Bundesrat lediglich mit den "für ihre Willensbildung erforderlichen Informationen" versorgen. Vorgaben dazu machen die Karlsruher Richter nicht. Es bleibt dem ESM überlassen.

Was geschieht, wenn Deutschland sein Stimmrecht im ESM verliert?

Nach dem ESM-Vertrag verliert ein Staat sämtliche Stimmrechte im ESM, wenn er mit seiner Pflicht zur Einzahlung von Geldern in Verzug gerät. Um die demokratischen Kontrolle wäre es dann schnell geschehen, warnten die Kläger in Karlsruhe, zumal der ESM seinem Geldgeber Deutschland in einem solchen Fall nicht einmal einen echten Rechtsbehelf zugestehen würde.

Auf den Gouverneursrat und das Direktorium könnte Deutschland dann keinerlei Einfluss mehr nehmen - und damit auch nicht mehr mitbestimmen, was mit seinen bisher eingezahlten Milliarden geschieht. Das Gericht weist diesen Einwand recht lapidar zurück. Der Bundestag habe es schließlich selbst in der Hand, die versprochenen Zahlungen an den ESM im Bundeshaushalt bereitzustellen.

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