Eskalation in Gaza:Israels schmaler Grat

The aunt of Palestinian boy Mohammed Ayad, who medics said was killed during heavy Israeli shelling, mourns as she looks at his body during his funeral in Gaza City

Entsetzen in Gaza-Stadt: Die Tante eines getöteten palästinensischen Jungen trauert um ihren Neffen, der laut Angaben palästinensischer Ärzte bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam

(Foto: REUTERS)

Palästinensern und Israelis fällt es zusehends schwer, den blutigen Krieg zu rechtfertigen. Aber ein Zurück scheint es nicht zu geben. Längst ist hinter den Kulissen der Regierung Netanjahu ein Kampf darüber entbrannt, wie dieser Einsatz enden soll.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Gekämpft wird jetzt in den Trümmern, auch am Montag kehrt keine Ruhe ein in Schedschaija. Fast hundert Palästinenser sind bereits in diesem östlichen Vorort von Gaza-Stadt gestorben, seitdem sich Israels Armee hier am Sonntag auf einen Häuserkampf mit der Hamas eingelassen hat. Auf den Straßen liegen Leichen, die Krankenhäuser können die vielen Verletzten kaum noch aufnehmen. Überall sind die Menschen auf der Flucht, irren ziellos umher, wissen nicht, wo sie noch Schutz suchen können. Der Gazastreifen wird zur Hölle auf Erden. Was sollen die 1,8 Millionen dort lebenden Menschen denn noch alles durchleiden?

Auf der anderen Seite Israel: Vor zwei Wochen hat die Regierung dem Volk versprochen, für Ruhe zu sorgen vor den Raketen der Hamas. Seitdem wird pausenlos angegriffen im Gazastreifen, erst aus der Luft, nun auch mit Bodentruppen. Die Armee meldet Erfolg um Erfolg, mehr als 2500 Ziele seien bereits angegriffen worden. Doch auch am Montag liegt der Süden des Landes unter Beschuss, und in Tel Aviv gibt es wieder Luftalarm.

Die Zeitungen zeigen in langen Reihen die Bilder von jungen Männern in Uniform, darunter deren Lebensgeschichten, die alle an einem einzigen Tag abrupt enden. 13 Soldaten hat Israel allein am Sonntag verloren, 18 sind es insgesamt seit Beginn der Bodenoffensive. Und dann meldet die Hamas auch noch stolz die Entführung eines Soldaten. Wie lange kann die Nation das noch ertragen?

Israels Armee: Mittendrin im militärischen und moralischen Morast

Klar ist, dass dieser Krieg mit den blutigen Kämpfen in dicht besiedelten Gebieten in ein neues Stadium getreten ist. Ursprünglich war allein die Zerstörung des Tunnelsystems der Hamas zum Ziel der Bodenoffensive erklärt worden. Nun aber steckt Israels Armee im Gazastreifen mittendrin im militärischen und moralischen Morast - und noch wird zäh darum gerungen, welcher Weg wieder hinausführt.

Deutlich zu spüren ist einerseits, dass bei hundert Toten an einem Tag auf palästinensischer Seite der internationale Druck auf die Regierung in Jerusalem steigt. Die Bemühungen um eine Waffenruhe nehmen endlich an Fahrt auf, vorbei sind die Tage, in denen Israel weitgehend ohne Kritik von außen einen "Krieg zur Selbstverteidigung" führen konnte. Auf der anderen Seite aber muss Israels Führung dem Tod von 25 Soldaten schnell einen Sinn geben, also durchschlagende Erfolge vermelden. Das spricht für ein noch härteres Vorgehen mit großem Risiko - in einem Zeitfenster, das sich langsam schließt, weil irgendwann auch die Heimatfront bröckelt.

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Entspannung ist in dieser Situation also höchstens mittelfristig in Sicht. Für die Menschen im Gazastreifen bedeutet dies, dass sie weiter hilflos den israelischen Angriffen ausgeliefert sind. Die Hamas-Führung ist komplett in den Untergrund abgetaucht, die Kämpfer der Kassam-Brigaden verschanzen sich bei ihren Angriffen auf Israels Soldaten hinter der Zivilbevölkerung. Die Zahl von bislang 500 Toten droht damit weiter steil anzusteigen, ebenso wie die Masse der Flüchtlinge. Die Vereinten Nationen sprechen bereits von mehr als 150 000 Menschen, die vor den Kämpfen aus ihren Häusern geflohen sind. 80 000 haben Unterschlupf in UN-Einrichtungen gefunden, die mittlerweile völlig überfüllt sind.

"Gaza ist eine offene Wunde"

Doch mit jedem Tag des Krieges wächst auch das Risiko der Israelis, in eine der zahlreichen Fallen der Hamas zu laufen. Eines der Schreckensszenarien ist dabei die Entführung eines Soldaten - und genau dies verkündete ein maskierter Sprecher am Sonntagabend bei Al Jazeera und im Hamas-Sender Al-Aksa-TV. "Der zionistische Soldat Schaul Aaron ist in den Händen der Kassam-Brigaden", sagte er und nannte auch noch die Nummer seines Armee-Ausweises. Am Ende eines Tages des großen Blutvergießens und der Trauer strömten in Gaza-Stadt dann tatsächlich die Menschen zu Jubelkundgebungen auf die Straße. Noch am Abend dementierte der israelische UN-Botschafter diese Geisel-Geschichte. Ein Armeesprecher aber war zunächst vorsichtiger und erklärte, der Fall werde untersucht.

Der Gazastreifen

Der Gazastreifen wurde erst durch den Teilungsplan der Vereinten Nationen 1947 geschaffen und den Palästinensern zugeschlagen. Seither ist der gerade einmal 360 Quadratkilometer große Küstenstreifen ein Zankapfel. Nach dem ersten Nahostkrieg 1948 von Ägypten kontrolliert, wurde es 1967 von Israel im Sechs-Tage-Krieg besetzt. 1994 übertrugen die Israelis den Palästinensern die Verwaltung Yassir Arafats Fatah und zogen sich 2005 vollkommen zurück. Zwei Jahre später vertrieb die islamistische Hamas die Fatah. Israel riegelte den Gazastreifen mit inzwischen 1,8 Millionen Einwohnern daraufhin ab. Seither kam es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen und 2008 und 2012 zu zwei mit großer Härte geführten Kriegen, denen palästinensische Zivilisten in großer Zahl zum Opfer fielen. SZ

Der zweite Pfad, auf dem die militärisch hoffnungslos unterlegene Hamas einen Erfolg sucht, führt durch Tunnel, die unter der Grenze hindurch nach Israel gegraben wurden. Auch am Montag schaffte es auf diesem Weg wieder ein bewaffnetes Kommando bis in die Nähe eines israelischen Kibbuz. Dort wurde der schwer bewaffnete Palästinenser-Trupp entdeckt, für Propagandazwecke der Armee gefilmt und live unter Feuer genommen. Zehn Eindringlinge wurden getötet. Aber auch hier würde der Hamas ein einziger gelungener Terrorangriff genügen, um sich allen Verlusten zum Trotz als Sieger im Trümmerfeld zu präsentieren.

Es ist also ein schmaler Grat, auf dem Israels Führung in diesem Krieg immer noch weiter nach vorne prescht. Premierminister Benjamin Netanjahu schwört die Nation mit wachsendem Pathos aufs Durchhalten ein. "Es gibt keinen gerechteren Krieg als diesen, in dem unsere Söhne heroisch fallen", sagte er. Hinter den Kulissen aber ist längst der Kampf darüber entbrannt, wo dieser Einsatz enden soll. Verteidigungsminister Mosche Jaalon deutete einen möglichen Ausstieg an mit der Aussage, dass in zwei bis drei Tagen ein Großteil des Tunnelsystems der Hamas zerstört sein könnte. Andere Kabinettskollegen wie Strategieminister Juval Steinitz aber fordern einen längeren Einsatz mit noch härteren Schlägen gegen die Hamas.

Hoffnung kann in dieser verfahrenen Lage nur von außen kommen. Die USA mischen sich verstärkt ein, der UN-Sicherheitsrat fordert eine Waffenruhe. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon reist gerade auf Friedensmission durch die Region. "Gaza ist eine offene Wunde", sagt er, "wir müssen die Blutung stoppen."

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