Gedenken:25 Jahre nach Eschede

Gedenken: Die Gedenkstätte des Unglücks bei Eschede in Niedersachsen.

Die Gedenkstätte des Unglücks bei Eschede in Niedersachsen.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Vor einem Vierteljahrhundert ereignete sich das schlimmste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik.

Von Jana Stegemann, Hamburg

Wer an diesem Samstagmorgen mit dem ICE durch Niedersachsen fährt, wird erleben, wie der Zug auf Höhe von Eschede abbremsen und langsam vorbeifahren wird. "Eine schöne Geste des Respekts", findet Heinrich Löwen. Hier in dem kleinen Ort in der Lüneburger Heide passierte am 3. Juni 1998 die größte Zugkatastrophe der deutschen Nachkriegsgeschichte mit 101 Toten, 88 Schwerverletzten, Hunderten Traumatisierten. Auch weltweit gibt es kein vergleichbar schweres Unglück mit Schnellzügen. Eschede ist seitdem Chiffre für ein nationales Trauma, der Spiegel titelte damals: "Die deutsche Titanic". Dabei war der ICE sieben Jahre zuvor von der Deutschen Bahn als sicheres Technikwunder eingeführt worden, mit ihm zu fahren sei "eine Flugreise auf Schienen".

Heinrich Löwen verlor in Eschede seine Frau und seine älteste Tochter; seitdem hat es sich der Niederbayer zur Lebensaufgabe gemacht, eine Stimme für die Hinterbliebenen und Verletzten zu sein. Der 78-Jährige hat nun ein Buch über die Katastrophe geschrieben. Drei Wochen nach dem Unglück gründete Löwen die "Selbsthilfe Eschede", in der ein Großteil der Angehörigen und Überlebenden organisiert sind. Jedes Jahr am 3. Juni geht Löwen an den 101 Kirschbäumen entlang die 33 Stufen runter zur Gedenkwand am Bahndamm in Eschede, immer um 10.45 Uhr hält er dort seine Ansprache.

Bei vielen Helfern wirkt das Unglück bis heute nach

Um 10.59 Uhr entgleiste damals an dieser Stelle der ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen und prallte mit 200 km/h gegen den Pfeiler einer Autobrücke. Es waren apokalyptische Bilder, die um die Welt gingen: ICE und Brücke waren fast vollständig zerstört. Die Zugteile hatten sich wie ein riesiger Zollstock ineinander geschoben; die 200 Tonnen schwere Betonbrücke war auf ein Zugteil gestürzt. Am Ende war der Wagen nur noch 60 Zentimeter hoch. Tote und Verletzte lagen zwischen den aufgerissenen Waggons. Der Einsatzleiter Hans-Werner Schmitz hatte der Süddeutschen Zeitung Tage danach gesagt: "Menschen irrten geschockt umher, aus dem riesigen Trümmerfeld drangen Schreie." Geistliche versuchten noch, Sterbesakramente zu spenden. Mehr als 2000 Einsatzkräfte aus ganz Deutschland eilten zur Unglücksstelle, auch viele Menschen aus Eschede halfen tagelang bei der Bergung von Toten und Leichenteilen. Bei vielen Helfern wirkt das Unglück bis heute nach, Eschede war zugleich die Geburtsstunde der flächendeckenden Psychosozialen Notfallversorgung für Feuerwehrleute und andere Ersthelfer.

Schnell ist klar, was die Katastrophe ausgelöst hat: ein Radreifen, der sechs Kilometer vor Eschede brach. Später stellte sich heraus, dass das gummigefederte Rad unter dem Hochgeschwindigkeitszug ungenügend getestet, vorschnell eingeführt und mangelhaft gewartet worden war. Wohl auf Druck der Konzernleitung, weil es - verkürzt zusammengefasst - zu viel in den Speisewagen ruckelte und die Chefs sich mehr Komfort für ihr Prestigeprojekt gewünscht hatten.

Die Deutsche Bahn zahlte den Hinterbliebenen nach langem Hin und Her 30 000 Mark pro Todesopfer, erst vier Jahre nach dem Unglück startete der Prozess, einer der umfangreichsten, die es in Deutschland jemals gegeben hatte. Auf der Anklagebank: zwei Bahnbeamte und ein Ingenieur, die alle mit der Entwicklung des Gummirads zu tun hatten.

Heinrich Löwen hatte vor Prozessbeginn vom Gericht gefordert, ihm und den anderen Opfern "den inneren Frieden wiederzugeben". Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass "niemand schuld und das Unglück vom Himmel gefallen" sei. Die drei Angeklagten sah Löwen als "Bauernopfer". Schließlich habe die Bahn "als ganzes Unternehmen versagt". Doch nach 53 Verhandlungstagen wird der Prozess gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt, den Angeklagten könne nicht nachgewiesen werden, dass sie verantwortlich für die Katastrophe seien, hieß es.

Erst 15 Jahre nach dem Unglück hatte sich erstmals ein Bahnvorstand, es war Rüdiger Grube, bei den Opfern und Hinterbliebenen entschuldigt. Für diesen Samstag hat sich für die Gedenkfeier der aktuelle Bahn-Chef Richard Lutz angekündigt.

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